Der Schweizversteher
der Wiege des Schweizer Protestantismus,
entfernt. Zwei Städte, zwei Glaubensrichtungen, zwei grundverschiedene Welten.
Nur 40
Kilometer trennen zwei der bedeutendsten religiösen Wahrzeichen der Schweiz,
das Grossmünster in Zürich und das Kloster Einsiedeln, doch die Kluft
dazwischen ist tief. Die beiden Bauten veranschaulichen, wie stark sich
Protestanten und Katholiken auch heute noch unterscheiden, zumindest in
Stilfragen â als stünden sich die förmlich-korrekte Elisabeth II . und Prinzessin Diana gegenüber, hier ein nur
angedeuteter Hauch geschmackvoller Ausstattung versus vielfarbigem Ãberschwang
dort, der ein ehrfürchtiges Publikum anlockt. Typisch Schweiz ist ihre
friedliche Koexistenz. Aber die Kirche in der Schweiz ist nun einmal ein
auÃergewöhnliches Gebilde.
Eine demokratische Kirche
Das eigentlich Bemerkenswerte an Einsiedeln ist nicht
seine pompöse Ausstattung oder die Viertelmillion Pilger alljährlich, sondern
dass es sich um eine autonome Einheit innerhalb der katholischen Kirche
handelt. Das Kloster gehört zu keiner Schweizer Diözese, es ist direkt Seiner
Heiligkeit in Rom unterstellt. Ein Relikt längst vergangener Tage, es gibt
weltweit kaum ein Dutzend Beispiele hierfür. Doch Schweizer Katholiken finden
das vielleicht gar nicht merkwürdig, ihr katholischer Zweig folgt sowieso
seinen eigenen Regeln. So gibt es in der Schweiz keine Erzdiözesen, was heiÃt,
dass die sechs Diözesen genau wie Einsiedeln direkt dem Papst unterstehen. Und
nicht nur das, die Schweizer Bischöfe werden eher in Absprache mit dem Volk als
auf Befehl Roms ernannt. Die katholische Kirche ist von säkularen
demokratischen Strukturen beeinflusst? Auch das ist wieder einmal typisch
Schweiz.
Aber nicht nur die Katholiken machen in der Schweiz
ihr eigenes Ding, auch die Reformierten agieren eigenständig. Es gibt in der
Schweiz keine Gesamtkörperschaft der protestantischen Kirche wie etwa bei der
anglikanischen Glaubensgemeinschaft in England. Der Schweizerische Evangelische
Kirchenbund ist ein Zusammenschluss voneinander unabhängiger Kantonalkirchen,
von denen manche im Grunde Staatskirchen sind, andere wieder nicht. Manche sind
liberal, andere streng gläubig; manche sind französisch-, die meisten aber
deutschsprachig. Fast ein Spiegelbild der Schweiz, alles sehr egalitär und ohne
dominante Autorität.
Die Tatsache, dass sowohl Katholiken als auch
Protestanten ihre Angelegenheiten hier demokratischer regeln, ist vielleicht
der Hauptgrund dafür, dass die Religion in der Schweiz keine Streitfrage ist
wie in anderen Ländern dieser Welt. Wenn man beispielsweise wie ich mit dem
Nordirlandkonflikt groà geworden ist, staunt man darüber, dass es die Trennung
zwischen Katholiken und Protestanten in der Schweiz zwar noch gibt, sie aber
keine Rolle mehr spielt. Was nicht immer so war. Auch in der Schweiz dauerte es
eine ganze Weile, und es wurde viel Blut vergossen, ehe religiöse Dogmen
nationalen Interessen untergeordnet wurden. Begonnen haben die Scherereien mit
einem einzigen Mann. Nein, nicht mit dem von vor 2000 Jahren, sondern mit
einem Schweizer. Vor nicht ganz so langer Zeit.
Der dritte Mann
Trotz seines Namens ist das Grossmünster in Zürich
weder die gröÃte noch die prächtigste Kathedrale der Schweiz. Dennoch kann man
es als Mutterkirche der Schweizer Protestanten betrachten, denn hier erblickte
die Schweizer Reformation 1519
das Licht der Welt. Und der Vater â Ulrich oder, wie er sich später nannte,
Huldrych Zwingli â war bei der Geburt persönlich anwesend.
Zwingli ist der vergessene dritte Mann der
Reformation, Martin Luther und Jean Calvin haben den ganzen Ruhm eingeheimst.
Ãberall auf der Welt findet man lutherische oder calvinistische Kirchen, aber
auf zwingliische stöÃt man kaum. Und statt als einer der Märtyrer des
Protestantismus oder wenigstens als groÃer Schweizer verehrt zu werden, ist er
eine FuÃnote der Geschichte. Selbst in seiner Wahlheimat Zürich ist sein
Denkmal nur schwer zu finden, es steht zwischen Bäumen versteckt am Flussufer.
Dies mag aber mit dem schweizerischen Widerstreben gegen die Glorifizierung von
Toten zu tun haben und mit ihrem Widerwillen gegen die Errichtung von
Standbildern zu ihren Ehren. Im Gegensatz zu ihren europäischen Pendants, wo an
allen Ecken und Enden Ebenbilder verblichener Helden aus Stein und Metall
herumstehen, sind
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