Der Schweizversteher
Ihnen gefällt
eine Entscheidung der Regierung nicht? Dann sammeln Sie Unterschriften, um sie
zu revidieren. Sie wollen ein neues Gesetz? Dann suchen Sie Gleichgesinnte. Sie
hassen Minarette? Dann ziehen Sie mit Unterschriftenlisten über die
Marktplätze. So ungefähr. Unterschriftensammler sind ziemliche Nervensägen,
aber zumindest ich kann ihnen mit vier einfachen Worten ausweichen: Ich bin
kein Schweizer. Als Ausländer bin ich hier nicht wahlberechtigt, meine
Unterschrift hat also keinen Wert.
AuÃenstehenden fällt es schwer nachzuvollziehen, dass
ein Land funktionieren kann, in dem jedes Gesetz und jede Regierungshandlung
Thema einer Volksabstimmung ist. Schweizer hingegen verstehen nicht, dass
irgendein Land ohne solche Mitbestimmung auskommt. Ob Steuererhöhungen,
Afghanistankrieg, Privatisierungen oder Kopfpauschale â all das wäre in der
Schweiz wahrscheinlich nicht möglich, denn genau solche Fragen wären Themen für
ein Referendum. Das Schweizer Volk kann ein Gesetzgebungsverfahren initiieren
oder zu Fall bringen; es kann die Regierung zu einer neuen Politik zwingen oder
bereits gefällte Entscheidungen rückgängig machen. Keine Person oder Partei hat
jemals allein das Sagen â es entscheidet das Volk. Vergessen Sie China und
Nordkorea, es gibt nur ein Land, das den Zusatz »Volksrepublik« wirklich
verdient, und das ist die Schweiz.
In den meisten Landesteilen verleiht man seiner
Meinung mithilfe der Wahlurne Ausdruck, im Kanton Appenzell Innerrhoden gibt es
jedoch eine andere Methode. Eine, die sich seit dem 14. Jahrhundert kaum
geändert hat.
Direkte Demokratie in Aktion
Der abschüssige Hauptplatz ist überfüllt.
Frühaufsteher haben sich einen Sitzplatz in den vorderen Reihen gesichert,
dahinter stehen die Menschen dicht gedrängt. Beherztere Zeitgenossen
balancieren gefährlich auf Fahrradständern oder steinernen Brunneneinfassungen,
Glückliche sitzen bequem an Fenstern mit Sicht auf den Platz. Geschäfte und
Restaurants gehen in dem Menschenmeer fast unter, und all diese vielen Leute
sind nur aus einem einzigen Grund nach Appenzell gekommen: Wie jedes Jahr am
letzten Aprilsonntag tagt die Landsgemeinde, das
Kommunalparlament des Kantons (nur wenn Ostern auf dieses Datum fällt, wird sie
um eine Woche verschoben).
Appenzell ist einer der letzten beiden Kantone (Glarus
ist der andere), wo nach wie vor eine Volksversammlung unter freiem Himmel die
regionalen Angelegenheiten entscheidet, über Referenden abstimmt und die
Kantonsregierung wählt. Jeder wahlberechtigte Bürger kann teilnehmen und stimmt
ab, indem er die Hand hebt. Und obwohl der Schwester-Halbkanton Ausserrhoden
seine Landsgemeinde Ende der 1990er-Jahre abgeschafft
hat, macht Innerrhoden keine Anstalten, diesem Beispiel zu folgen. Dinge ändern
sich hier nur langsam. SchlieÃlich war es auch der letzte Schweizer Kanton, der
den Frauen (widerwillig) das Stimmrecht bei Kantonsangelegenheiten einräumte.
Und zwar 1991.
Nein, das ist kein Tippfehler. 1991, als Präsident Bush senior den ersten
Golfkrieg vom Zaun brach, als sowohl der Sowjetunion als auch Dallas das letzte Stündlein schlug und Bryan Adams zur
ewigen Nummer 1
aufstieg.
Auf Bundesebene durften die Schweizer Frauen bereits
seit 1971
abstimmen (auch das erschreckend spät), doch es dauerte weitere zwanzig Jahre,
bis die Männer von Appenzell Innerrhoden ihre Vormachtstellung bei
Kantonsentscheidungen aufgaben. Und auch das erst, als ein Urteilsspruch des
höchsten Bundesgerichts sie dazu zwang.
Heute drängen sich eine Menge Frauen auf dem kleinen
Platz, um ihr hart errungenes demokratisches Recht auszuüben. Nachdem der
Gottesdienst vorbei ist, ertönt Schlag 12.00 Uhr Trommelwirbel,
Fahnen werden geschwungen, die Blaskapelle spielt, und Würdenträger
prozessieren von der Kirche die Hauptgasse hinunter zum Platz und auf die
Bühne. Die vielen Schaulustigen müssen dahinter oder an den Seiten des Platzes
stehen; ein mit Absperrseilen gesicherter und von Männern mit schicken
schwarzen Uniformen und goldglänzenden Helmen bewachter breiter Korridor trennt
sie vom auserwählten Kreis der Wahlberechtigten. Wer in den inneren Ring
eintreten will, muss seine (oder ihre) Stimmkarte vorzeigen und sich unter dem
Seil durchducken. Um dann als Stimmberechtigte(r) stundenlang in der heiÃen
Aprilsonne auszuharren.
Die Ratsmitglieder tragen triste schwarze und
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