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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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graue
Roben wie Richter, doch da sie erhöht auf einem Podium hinter einem
Holzgeländer stehen, wirken sie eher wie Angeklagte. Was sie im Grunde auch
sind, denn hier müssen sie sich ihrer versammelten Wählerschaft gegenüber
verantworten. Aber bevor die Debatte beginnen kann, legen Ratsmitglieder und
Abstimmende erst noch den Eid ab, genau wie die drei Männer auf dem Rütli.
Hunderte Hände – zwei Finger und Daumen gestreckt – schießen in die Höhe, und
alle schwören gemeinsam. Für Gutwillige mag das wie beim Radio Ga Ga-Video von
Queen aussehen, ich jedoch muss bei all den erhobenen Armen an einen
Naziaufmarsch denken. Aber verpetzen Sie mich bitte nicht bei den Appenzellern.
    Sobald die Versammlung eröffnet ist, darf jeder
Stimmberechtigte aufstehen und zu jedem Tagesordnungspunkt sprechen. Bevor
nicht auch noch der Letzte, der sich gemeldet hat, zu Wort gekommen ist, wird
nicht abgestimmt. Ja, das kann sich hinziehen, dennoch gibt es keine
Zwischenrufe, und es geht auch sonst sehr diszipliniert zu. Bei den
Redebeiträgen ist es still, niemand klatscht oder johlt beifällig, man hört
nicht einmal unzufriedenes Raunen. Die Beteiligung der Wählerschaft beschränkt
sich offenbar aufs Zuhören und Abstimmen. Fast ist es ein bisschen dröge. Jede
Debatte endet mit dem Handaufheben für Ja oder Nein, dann wird ohne genaues
Durchzählen das Ergebnis bekannt gegeben, und die Versammlung geht bedächtig
weiter. Die einzige Aufregung in den ersten Stunden entsteht, als ein
Wahlberechtigter in der Hitze ohnmächtig wird und aus dem Ring getragen werden
muss. Nicht, dass es viel Aufsehen erregen würde, denn gerade wird das große
Thema des Tages aufgerufen: Nacktwandern.
    Die Landsgemeinde zieht
immer eine Menge Schaulustiger an, und auch das örtliche Fernsehen ist da.
Heute aber gibt es noch mehr Zuschauer als sonst sowie internationale
Berichterstattung, alles dank den Nacktwanderern. Offenbar ist ihre Zahl in
Appenzell Innerrhoden sprunghaft angestiegen, und so wird – zum Entzücken der
Reporter von nah und fern – der Antrag gestellt, dieses Freizeitvergnügen zu
verbieten. Die Debatte ist kurz, und der Antrag wird mit überwältigender
Mehrheit angenommen. Das heißt, dass man in Zukunft eine Strafe von 200
Franken zahlen muss, wenn man beim Nacktwandern erwischt wird. Was mich
erstaunt ist weniger das Ergebnis als vielmehr, dass es ein paar tapfere
Streiter gibt, die dagegenstimmen. Augenblicklich kennen all ihre Nachbarn und
Freunde die ungeschminkte Wahrheit: Entweder die Renitenten laufen selbst gern
hüllenlos durch die Gegend, oder aber sie sind verweichlichte Liberale, die
jeden nach seiner Fasson selig werden lassen wollen. Und genau das ist für mich
das Problem dieser ganzen Veranstaltung.
    Einerseits ist es eine Demonstration von Demokratie in
ihrer reinsten Form. Jeder hat die Möglichkeit, sich einzubringen und seine
Meinung zu sagen, und die Gewählten sind gezwungen, ihren Wählern direkt Rede
und Antwort zu stehen. Aber es kann eben auch Gruppendruck in einem Maße
entstehen, dass die Demokratie davon erstickt wird. Stellen Sie sich vor, jeder
in Ihrem Wohnort wüsste genau, was Sie denken und wie Sie abstimmen – und in
der Schweiz heißt das nicht einfach nur, welche Partei Sie wählen. Denn dank
solchen direkten Abstimmungen erfährt jeder, wie Sie über alle möglichen
anderen Fragen denken, vom Passivrauchen angefangen über die Einkommenssteuer
bis hin zur Ausländerpolitik und dem Mindestalter für Volljährigkeit. Gegenüber
einer Mehrheit buchstäblich für seine Überzeugungen einzustehen kann für
manchen zu viel verlangt sein. Funktioniert eine moderne Demokratie wirklich
besser ohne geheime Abstimmungen in Wahlkabinen? Ich habe da meine Zweifel.
    Nach der Abstimmung über die Nackten wandern viele
Stimmberechtigte ab, obwohl die Debatte weitergeht. Gregor und ich ziehen uns
in den Schatten zurück, weil wir dringend etwas essen müssen, und landen am
Tisch eines älteren Ehepaars. Wie sich herausstellt, kommen sie aus Appenzell
Ausserrhoden und fahren, seit es in Ausserrhoden keine Landsgemeinde mehr gibt, jedes Jahr hierher. Sie vermissen sie eindeutig. Im Gegensatz zu
typischen Schweizern sind die beiden recht redselig und verraten uns
bereitwillig, dass die Männer mit den schicken Uniformen und den glänzenden
Helmen Ausserrhodener

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