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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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System nur
begreifen, wenn man das Parlament persönlich besichtigt. Es gibt dort
kostenlose Führungen, wenn nicht gerade die Bundesversammlung tagt – also fast
immer.
    Was Hauptstädte angeht, ist Bern eine der hübschesten.
An drei Seiten von der Aare umflossen, liegt es auf einem langen, schmalen
Höhenkamm. Auf den ersten Blick sind die einzigen Spuren von Modernität in der
als Fußgängerzone ausgewiesenen Altstadt Ladenschilder und Straßenbahnen, denn
sämtliche Konsumfallen des 21.
Jahrhunderts verstecken sich unter den Arkaden, die auf einer Länge von insgesamt
sechs Kilometern die Hauptstraßen säumen. Dank ihnen ist Bern für einen
Fußgänger die reinste Freude. Unbehelligt von Regen, Schnee und Sommersonne
schlendern Einkaufswillige hier entlang und reduzieren das Tempo auf
beerdigungstaugliches Schreiten. So war es für die Berner keine Überraschung,
als ihre Stadt 2007
als eine der langsamsten der Welt für Fußgänger bewertet wurde. Nichts passiert
hier schnell. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Albert Einstein seine
Relativitätstheorie entwickelt hat, als er hier lebte und arbeitete: Er hatte
alle Zeit der Welt, um über die Lichtgeschwindigkeit nachzudenken.
    Meist schlägt auch die Politik in der Schweizer
Hauptstadt ein gemächliches Tempo an. Man sieht nicht selten ein
Bundesratsmitglied unbeschattet von Leibwächtern auf den Bus warten. Das heißt,
falls Sie ihn oder sie erkennen. Denn Schweizer Politiker sind viel unbekannter
als ihre Kollegen in anderen Ländern, schon weil die Politik hier so viel
wichtiger ist als die Personen. Viele meiner Schweizer Freunde haben
Schwierigkeiten, die sieben Bundesratsmitglieder aufzuzählen, und da der
Präsident alljährlich wechselt, bekommt man auch kaum mit, wer gerade dran ist.
Die Arbeit in der Bundesversammlung ist ein Teilzeitjob: Nur vier Mal im Jahr
gibt es eine jeweils dreiwöchige Sitzungsperiode, getagt wird also lediglich
zwölf Wochen pro Jahr. Außer den Bundesräten gibt es kaum Vollzeitpolitiker;
die meisten verdienen ihr Brot als Rechtsanwälte, Lehrer, Polizeibeamte oder
Ärzte. Schweizer Parlamentsmitglieder bekommen auch kein Gehalt, sondern eine
Aufwandsentschädigung für die Tage, an denen sie ihren parlamentarischen
Aufgaben nachgehen. Und weder Sekretärinnen noch Assistenten, geschweige denn
ein Zweitwohnsitz werden ihnen finanziert, Sahnehäubchen gibt’s in der Schweiz
nur auf dem café mélange , absahnen kann man in diesem
Amt also nicht. Alles funktioniert sehr maßvoll und kostenbewusst, in krassem
Gegensatz zu dem pompösen Bundeshaus, das ein Heidengeld gekostet haben muss.
    Drinnen wirkt alles (für meine englischen Augen) sehr
viktorianisch, bombastische Wandgemälde illustrieren Szenen der Schweizer
Geschichte, dazu neugotische Lüster und Tausende Festmeter geschnitztes Holz.
Ein riesiges Standbild aus Stein, das die Eingangshalle dominiert, zeigt die drei
Eidgenossen beim Rütlischwur, wenngleich sie verdächtig Statisten aus Der Herr der Ringe ähneln. Über ihren Köpfen wölbt sich die
Buntglaskuppel mit dem Schweizer Kreuz im Mittelpunkt und den Wappen aller
Kantone rundum, die es 1902
bei der Einweihung des Parlamentsgebäudes bereits gab. Was heißt, dass Jura
fehlt: Man hat das Wappen später abseits in die Mitte eines Bogens eingesetzt –
eine Position, die der Kanton auch im Denken vieler Schweizer einnimmt. Der
Gesamteindruck ist überraschend unschweizerisch: schwülstig, triumphal,
nationalistisch. Aber das Parlamentsgebäude wurde nun mal gebaut, als der
neuentdeckte Nationalismus groß in Mode war und sich selbst die Schweiz
genötigt sah, Dinge aufzublähen. Sie mögen Schweizer sein, aber sie sind auch nur
Menschen und keine Vulkanier.
    Unsere Führerin erklärte uns wirklich alles, auch wenn
man gar nicht ahnte, dass man es wissen wollte. So erfuhren wir etwa, dass
jedes Mitglied der Bundesversammlung seinen oder ihren eigenen Stuhl und
Schreibtisch hat – anders als im House of Commons hockt man hier also nicht
dicht an dicht wie auf der Hühnerstange. Im Nationalrat sitzen die Abgeordneten
derselben Fraktion oder nach politischer Neigung zusammen, im kleineren
Ständerat dagegen immer die beiden aus demselben Kanton. Wie niedlich. Ach ja,
der Sprecher des Nationalrats bekleidet übrigens das höchste Amt im Land.

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