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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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entscheiden.
    Was aber vielleicht einfacher klingt, als es ist, denn
auch Wahlen und Abstimmungen sind in der Schweiz komplizierter als in anderen
Ländern. Der Survival-Tipp am Ende des Kapitels gibt näher Aufschluss.

Viele Köche verfeinern den Brei
    Da hier das Volk alle paar Monate aufgerufen ist, auf
allen möglichen Ebenen über alles Mögliche zu entscheiden, könnte der Eindruck
entstehen, es gebe keine Obrigkeit, die das Land regiert. Das Schweizer System
der Gemeindeselbstverwaltung und Referenden verschiebt zwar eine Menge Macht
nach unten (das heißt zur Wählerschaft), doch das heißt nicht, dass es kein
»oben« gäbe. Wobei auch die Spitze – wir sind hier in der Schweiz – eine einzigartige
Struktur hat, die exemplarisch ist für die Schweizer Haltung zur Politik: Nie
liegt die Zuständigkeit bei nur einer Person.
    Die Schweiz wird von einem Ausschuss regiert. Dank dem
Verhältniswahlrecht und den vielen Parteien ist der regierende Rat auf jeder
Ebene fast immer eine Koalition. Die Zusammensetzung von Parlament und Rat und
die Größe der Organe sehen in jedem Kanton anders aus, daher begnüge ich mich
mit einem Blick auf die Bundesebene, um zu zeigen, wie Regieren durch
Kompromisse tatsächlich funktioniert.
    Die eigentliche Regierung ist der Bundesrat. Er
besteht aus sieben Mitgliedern und ist eine permanente Koalition, in der nie
eine Partei oder eine Person allein das Sagen hat. Jedes Bundesratsmitglied ist
für ein Ressort zuständig, also für Finanzen oder Auswärtige Angelegenheiten oder (mein Favorit) Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport : Vermutlich ist
die Schweiz das einzige Land, wo der Verteidigungsminister zugleich für den
Sportunterricht verantwortlich ist. Diese Departementsvorsteher und -vorsteherinnen
übernehmen abwechselnd für jeweils ein Jahr die Präsidentschaft, leiten aber
ihr eigenes Ressort in dieser Zeit weiter. Nicht, dass der Bundespräsident oder
die Bundespräsidentin mehr zu sagen hätte als die anderen, aber einer muss ja
das Händeschütteln bei Staatsbesuchen übernehmen und am 1. August die Rede halten.
    Gewählt wird der Bundesrat alle vier Jahre von der
Bundesversammlung und nicht durch Volksabstimmung – das einzige Mal, dass das
Volk in der Schweizer Politik nicht direkt entscheidet. (Allerdings gab es
bereits mehrere Anläufe, das zu ändern, den letzten startete 2010
die Schweizerische Volkspartei ( SVP ) mit einer
»Initiative zur Volkswahl des Bundesrates«. Wenn genügend Unterschriften
zusammenkommen, wird darüber in einem Referendum abgestimmt.) Damit will man
verhindern, dass es Präsidentschaftswahlkampagnen gibt oder dass Partei-,
Kantons- oder sprachliche Loyalitäten das Ergebnis beeinflussen. Zugleich will
man den Bundesrat als eine übergeordnete Körperschaft definieren, die über dem
politischen Gezänk steht. Was diese Wahlen ziemlich langweilig und voraussagbar
gemacht hat – zumindest bis 2003.
Denn bis dahin wurde eine »Zauberformel« zugrunde gelegt, die sicherstellte,
dass der Bundesrat die vier wichtigsten Parteien sowie die verschiedenen
Landesteile repräsentierte. Und da die Bundesratsmitglieder normalerweise im
Amt bleiben und immer wiedergewählt werden, bis sie in Pension gehen,
zurücktreten oder sterben, winkte die Bundesversammlung sie oft einfach nur
durch. Doch bei den allgemeinen Wahlen 2003 wurde die
rechtsgerichtete SVP mit rund 29 Prozent stärkste Kraft.
Mithilfe ihrer zusätzlichen Stimmen in der Bundesversammlung vertrieb sie ein
amtierendes Bundesratsmitglied aus dem Amt und wählte stattdessen ihren Vorsitzenden
Christoph Blocher. So einen Coup hatte es seit 1872 nicht mehr gegeben;
plötzlich wurde die Schweizer Politik interessant.
    Doch das Beste sollte noch kommen. Nach den Wahlen von
2007
(Schweizer Wahlen finden mit der Präzision eines Uhrwerks alle vier Jahre im
Oktober statt) taten sich Mitte- und Linksparteien zusammen und rächten sich,
indem sie Blocher als Bundesrat abwählten. Er erwies sich als schlechter
Verlierer und tobte wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen
hatte. Die SVP stürmte aus der Bundesversammlung,
und zum ersten Mal seit Jahrzehnten gab es in der Schweiz eine Opposition –
eine starke Partei, die nicht im Bundesrat vertreten war. Einer Nation, die
Parteienpolitik in dieser Form nicht gewohnt war, versetzte das einen

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