Der Schweizversteher
schweren
Schock. Willkommen in der Wirklichkeit!
Weder die Parteien noch das Volk schienen aber zu
wissen, wie man mit dieser neumodischen Konfrontationspolitik umgehen sollte â
dieses Gebrüll und diese Meinungsverschiedenheiten waren so unschweizerisch. Und
die SVP erkannte bald, wie wenig Spaà es machte, in
der Opposition zu sein. Als dann 2008 der Verteidigungs- (und
Schulsport-)Departementschef von seinem Amt zurücktrat, wurde sein Platz im
Bundesrat mit einem SVP -Mann besetzt, und die
Kompromisspolitik nahm wieder ihren Lauf â ein erleichterter kollektiver
Seufzer ging durch die Schweiz.
Doch obwohl die Regierung, also der Bundesrat, aus den
gröÃten Parteien zusammengesetzt ist, heiÃt das nicht, dass sie bei der
Gesetzgebung freie Hand hätte. Die Bundesversammlung bildet gewissermaÃen ein
Gegengewicht zur Regierung und agiert als Opposition. Sie kann Gesetze
verhindern, reformieren oder selbst welche vorlegen und tut das auch. Und
daneben hat sie, wie oben beschrieben, das letzte Wort bei den Wahlen zum Bundesrat.
Aber auch die Bundesversammlung ist ein Kompromissgebilde. Zwar ist sie aus
linken, rechten und Parteien der Mitte zusammengesetzt, da aber 13
Parteien mindestens einen Sitz dort haben, wechseln Loyalitäten und Allianzen
ständig. Natürlich hat die Parteienpolitik groÃen Einfluss, doch da schlicht
keine Partei die Mehrheit hat, ist jeder Gesetzentwurf das Ergebnis von
Zugeständnissen und Debatten. Falls nicht, besteht nämlich das Risiko, dass der
Entwurf beim Referendum vom Volk zurückgewiesen wird. Trotz der Vielzahl an
Parteien und der Streuung der Macht kennt die Schweiz bei ihrer Regierung nicht
den Drehtüreffekt, an dem Länder wie Italien oder Israel leiden. Der nationale
Wunsch nach Stabilität und Konkordanz, also Konsens, ist hier stärker als
Parteiendenken, und die Schweizer würden nie zulassen, dass ihre Politiker das
Wohlergehen ihres Landes gefährden.
Nachdem Sie nun das komplexe System der Volksmacht und
der Regierung durch einen Ausschuss kennengelernt haben, erfahren Sie sicher
mit Freude, dass die Bundesversammlung vergleichsweise einfach gestrickt ist.
Teilzeitpolitiker
Wie so viele Parlamente in der Welt besteht auch die
Bundesversammlung der Schweiz aus zwei gleichgestellten Kammern, die beide alle
vier Jahre direkt vom Volk gewählt werden. Im Ständerat ist jeder Kanton mit
zwei Sitzen vertreten, wobei die sechs Halbkantone logischerweise jeweils nur
einen innehaben. Dadurch sind die kleineren Kantone in der Kammer mit ihren 46
Sitzen stark vertreten und können nicht ständig überstimmt werden. Die 200
Abgeordneten des Nationalrats hingegen werden zwar ebenfalls von ihren Kantonen
entsandt, ihre Zahl hängt aber von der Einwohnerzahl ab: So hat Zürich als
gröÃter Kanton 34
Sitze, sechs Kantone haben nur das vorgeschriebene Minimum von je einem Sitz.
Vorbild für die Bundesversammlung war der amerikanische Kongress, allerdings
mit zwei gravierenden Unterschieden. Zum einen gibt es in der Schweiz keine
Direktwahl des Präsidenten: Beide Kammern wählen gemeinsam den Bundesrat und
ein Mitglied des Bundesrats zum Präsidenten. Zum anderen gibt es nicht nur zwei
Parteien und ein paar Unabhängige â das Schweizer Parlament ist die reinste
Buchstabensuppe.
Neben der schon erwähnten SVP haben wir hier die CVP , die FDP ,
die BDP , die EVP , die EDU , et cetera, et cetera. Und das sind nur die deutschen
Namen: So heiÃt etwa die SVP auf Französisch UDC (das Kürzel für Union Démocratique
du Centre , ein lächerlicher Name angesichts ihrer rechten Politik).
Diese Parteienvielfalt ist eine Folge des Verhältniswahlrechts, in der Schweiz
Proporzwahl genannt, die nach dem Generalstreik 1918 eingeführt wurde.
Dieser Landesstreik war der einzige Augenblick in der jüngeren Geschichte, in
dem die Schweiz kurz vor dem Zusammenbruch stand mit einer handlungsunfähigen
Regierung, die das Heer auf das eigene Volk schieÃen lieÃ.
Doch da man ja in der Schweiz und nicht in Deutschland
oder in Russland war, endete schlieÃlich alles wie üblich mit einem
Allparteiengespräch und einem Konsens. In den folgenden neunzig Jahren gab es dann
kaum noch Streiks, dafür viele Koalitionen und zahllose Parteien. Jedenfalls zu
viele für einen Zuwanderer aus GroÃbritannien, der an ein
Zweieinhalb-Parteiensystem gewöhnt ist. Vielleicht kann man das
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