Der Schweizversteher
Der
Präsident beziehungsweise die Präsidentin ist also wirklich nur zum
Händeschütteln da.
Am eigenartigsten ist dann die Besichtigung eines
Deckengemäldes, das den Schweizer Tourismus im 19. Jahrhundert zeigt. Drei
Putten stellen als Stereotypen verkleidet die Herkunftsländer der drei gröÃten
Urlaubergruppen dar: Der blonde Junge in Lederhosen steht für Deutschland, ein
schwarzhaariger Junge in quergestreiftem Hemd symbolisiert Frankreich und ein
rothaariger in kurzen Hosen England. Viele Schweizer nehmen diese Klischees
auch heute noch für bare Münze. Die Führerin deutet auf mich und meine
ebenfalls rothaarige Schwester (zu Besuch aus England) und bemerkt: »Wie unsere
beiden englischen Gäste beweisen, trifft die Schweizer Vorstellung, dass die
Briten rothaarig sind, heute noch genauso zu wie damals.«
Was besonders die Schweizer in unserer Gruppe
unheimlich komisch finden. Wir Briten assoziieren rotes Haar normalerweise mit
keltischen Wurzeln, doch für die Schweizer ist Brite und rothaarig eine feste
Paarung. Niemand weiÃ, woher dieses Klischee stammt, aber es hält sich
hartnäckig. Ein Brite drückt sich gewählt aus, ist rothaarig und Teetrinker,
macht lustige Filme und gute Musik, kann aber nicht kochen und steht dem Schnee
hilflos gegenüber â so das Schweizer Bild. Im GroÃen und Ganzen ist die Schweiz
anglophiles Gebiet: Man fühlt sich den Briten geistesverwandt, auch wenn diese
ein bisschen verschroben auf ihrer Monarchin als Staatsoberhaupt beharren, die
sie auch noch als »die Queen« betiteln, als gäbe es in Europa nur die eine.
Die Bundesversammlung hat übrigens erreicht, dass die
Bevölkerung der Schweiz ihren Abgeordneten weit mehr Vertrauen entgegenbringt,
als das in vielen anderen Ländern der Fall ist. Eine landesweite Erhebung von 2009
nennt den Nationalrat an fünfter Stelle der vertrauenswürdigsten Institutionen,
gleich nach der Polizei und der Justiz und weit vor der Regierung. Im Gegensatz
dazu belegen politische Parteien die letzten Plätze (gemeinsam mit der
Europäischen Union). Die Schweizer unterscheiden also deutlich zwischen
Parlament und Politik. Als Teilzeitpolitiker sind die Abgeordneten dieses
Landes meist auch relativ normal geblieben und nicht vom Bewusstsein ihrer
eigenen Wichtigkeit erfüllt, was in Schweizer Augen ein wichtiger Wesenszug bei
Personen des öffentlichen Lebens ist. SchlieÃlich soll das Parlament dem Volk
und nicht sich selbst (be)dienen. Das Wohl des Landes ist das Einzige, was
zählt, auch wenn das einer Minderheit Lasten aufbürden mag.
Einer von fünf?
Politik befasst sich normalerweise, vor allem in
Wahlkampfzeiten, mit Steuern und Ausgaben. Schweizer Politik ist anders. Geld
ist zwar wichtig, aber da jede Steuererhöhung oder -senkung und jede Ausgabe
der öffentlichen Hand womöglich ein Referendum auf den Plan ruft, wird nicht so
viel Aufhebens darum gemacht. Aus Wahlversprechen werden normalerweise
Kompromisse, und darum kommen die Parteien selten mit etwas wirklich Neuem daher,
das ja doch wieder nur auf dem Altar des Konsenses geschlachtet würde. Nur in
einer Frage unterscheidet sich die Schweiz kaum von den meisten anderen
Demokratien, und zwar beim Thema Einwanderung und Integration.
Die Schweiz ist vernarrt in Statistiken. Alles wird
gezählt, tabellarisch aufgelistet, bewertet und veröffentlicht. Die Website
jeder Stadt und jedes Kantons strotzt vor statistischen Daten, darunter
wirklich nützliche Informationen wie die genaue Zahl der Hausbesitzer oder die
Auskunft, welcher Prozentsatz der Bevölkerung albanisch spricht. Eine Zahl des
Bundesamtes für Statistik überrascht dann aber doch, nämlich dass 22,4
Prozent der in der Schweiz lebenden Menschen keine echten Schweizer sind. Also 1,7
Millionen einschlieÃlich meiner Person â auch ich tauche in dieser Statistik
auf! Beinahe unglaublich, dass in einem Land einer von fünf Einwohnern kein
Staatsbürger ist; in GroÃbritannien wären das zwölf Millionen Menschen, in
Deutschland über 16
Millionen (also die gesamte Bevölkerung von Berlin und Bayern; real sind es 6,7
Millionen). Wirklich eine ganze Menge.
Die Schweizer Nationalität wird als Privileg und nicht
als Recht gesehen und ist daher schwer zu erwerben. Wenn nicht mindestens ein
Elternteil Schweizer Bürger ist, zählt es nicht, ob man in der Schweiz geboren
wurde â auch
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