Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
Vom Netzwerk:
sich
währenddessen in Lichtgeschwindigkeit weiterdreht. Mit »Wandel« kann man in der
Schweiz nicht punkten.

Stabilität, Wohlstand, Gemeinschaft
    Die Schweizer behaupten zu Recht, dass die direkte
Demokratie, so langsam sie auch sein mag, die Basis für die Stabilität und den
Wohlstand ihres Landes ist. Einfach nur eine Föderation zu gründen genügt
nicht, um eine Nation zu werden: Das sah man in den 1860er-Jahren an den gar
nicht so Vereinigten Staaten oder in den 1990er-Jahren an
Jugoslawien. Wenn man das Volk hingegen nicht nur alle vier Jahre, sondern
ständig einbezieht, hat jeder die Chance, sich zu äußern, und jeder fühlt sich zugehörig.
Es stimmt zwar leider, dass dieser Prozess manchmal missbräuchlich in Gang
gesetzt wird, um Kampagnen zu Einzelfragen zu führen, aber das ist die
Ausnahme. Viel häufiger ist die Einleitung eines Referendums die Rettung, wenn
sich irgendetwas hochzuschaukeln droht.
    Ein gutes Beispiel hierfür ist der jurassische
Separatismus Ende der 1970er-Jahre.
Jede infrage kommende Gemeinde wurde aufgefordert, sich für den Verbleib im
Kanton Bern oder für den neuen Kanton Jura zu entscheiden. Eine Reihe lokaler
Referenden löste jedes Problem, ließ die Aufrührer verstummen und schuf den
jüngsten Schweizer Kanton. Eine Entscheidung, die selbstverständlich noch durch
ein bundesweites Referendum bestätigt werden musste. Grenzen werden hier nicht
per Dekret gezogen, sondern von den Menschen, die davon betroffen sind –
womöglich der einzig mögliche friedliche Weg. Folglich konnten sich auch die
französischsprachigen protestantischen Gemeinden entlang der neuen Grenze
entscheiden, ob sie eine religiöse Minderheit in einem katholischen Kanton oder
eine linguistische in einem deutschsprachigen Kanton sein wollten. Sie stimmten
für Letzteres.
    Seine Detailgenauigkeit auch noch auf der Mikroebene
verleiht dem Schweizer System genug Durchsetzungskraft und Flexibilität, um
fast jede Streitfrage beizulegen, und das nicht nur dank den Referenden. Zwar
ist die Schweiz in 26
Kantone aufgeteilt, doch beinahe ebenso wichtig ist die kleinste Einheit der
Schweizer Politik: die Gemeinde , französisch commune . 2011
gab es mehr als 2500
Schweizer Gemeinden mit einer Einwohnerzahl zwischen 20 und 370 000. Allerdings ist ihre
Zahl ständig im Sinken begriffen, weil die kleineren ums Überleben kämpfen und
deshalb oft freiwillig mit ihren Nachbargemeinden fusionieren. Jede Gemeinde
ist eine Art Minirepublik für sich, Entscheidungen werden entweder von einem
gewählten Rat oder, weit häufiger, von einer Jahresversammlung aller
Stimmberechtigten getroffen. Sie ist verantwortlich für die Daseinsvorsorge,
also Schulen, Straßen, Polizei, Wasserversorgung und Gesundheit. Auch hängt die
Höhe der Einkommenssteuer, die man zahlen muss, vom Wohnort ab – ein nicht zu
unterschätzender Faktor. Und man kann nur Schweizer Bürger werden, wenn die
Gemeinde, in der man lebt, zugestimmt hat. Sie ist die Grundfeste der Schweizer
Demokratie, doch wie jeder Teil des Systems ist auch die Gemeinde ihren Bürgern
gegenüber rechenschaftspflichtig.
    Auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene funktioniert
das Referendensystem, weil es jeden einbezieht. Es zwingt die Politiker, strittige
Fragen zu benennen, und nimmt die Stimmberechtigten in die Pflicht, sich in die
Debatte einzuarbeiten. Wobei die meisten Schweizer nichts lieber tun, als das
Thema des nächsten Referendums zu diskutieren: Selbst wenn sie beschließen, der
Abstimmung fernzubleiben, haben sie eine Meinung dazu, und normalerweise eine
gut begründete. In den Wochen vor einem Referendum kann man dem Thema schwer
entgehen. An jeder Straßenecke wird man von großen Plakaten aufgefordert, mit JA ! oder mit NEIN ! zu stimmen (oder auch
mit oui/si oder non/no ), in
den Zeitungen ist es in kleinerem Maßstab dasselbe. Geradezu fanatisch wird in
politischen TV -Runden, die das ganze Jahr über
ungeheuer beliebt sind, über Details der Einwanderungs- oder Gesundheitspolitik
debattiert. Ein Regierungsmitglied erläutert im Fernsehen die offizielle Linie,
was ungewöhnlich ist und überrascht, denn politische Werbung im Fernsehen ist
verboten: Es gibt keine Übertragungen von Parteiveranstaltungen und auch keine
Wahlwerbung der Parteien. Dennoch gibt es kein Informationsdefizit, die
Stimmberechtigten müssen sich nur noch

Weitere Kostenlose Bücher