Der Schweizversteher
den Sparstrumpf greifen, wenn sie es sich leisten
können; ihre Vorsicht ist legendär. Schweizern erscheint es unlogisch, etwas
auf Kredit zu kaufen, wenn man es doch gleich in bar zahlen und damit die
eigenen Finanzen im Griff behalten kann. Und wenn man es nicht gleich in bar
zahlen kann, dann kauft man es eben nicht. Werbung für Ratenkäufe oder zinslose
Kredite sieht man selten, weil das Wort »Schulden« auf staatlicher wie privater
Ebene nicht zum Schweizer Vokabular gehört. Im Grunde geht es darum, die Kontrolle
zu behalten, und das bedeutet, dass Einzugsermächtigungen nicht beliebt und für
Strom- und Gasrechnungen keineswegs vorgeschrieben sind. Jemand anderen auf
Geld vom eigenen Konto zugreifen zu lassen finden die meisten Eidgenossen nicht
empfehlenswert.
Auch Einzelhändler kennen Schulden höchstens vom
Hörensagen oder aus fremdländischen Filmen. Daher scheuen sie sich nicht, Waren
ohne Anzahlung oder Hinterlegen der Kreditkartennummer zu liefern, weil ihre
Kunden nur bestellen, was sie bezahlen können. Und natürlich verlässt man sich
darauf, dass sie die Rechnung begleichen, wenn man sie zur Kasse bittet.
Selbstverständlich werden in der Buchhandlung Stauffacher Bücher auf Rechnung
zugeschickt, nicht etwa mit Kreditkarte vorausbezahlt. Die Kunden haben einen
Monat Zeit, den Betrag zu überweisen. Man fühlt sich in die 1970er-Jahre
zurückversetzt.
Dasselbe Prinzip gilt auch bei gröÃeren Anschaffungen.
Ein neuer Kühlschrank wurde mir geliefert und angeschlossen, ohne dass ich
einen Rappen anbezahlt hätte; die Rechnung kam ein paar Tage später. Sehr
vertrauensvoll, aber immerhin kannte man ja meine Adresse.
Auch die Nationalökonomie ist entsprechend solide.
Dank einem gesunden Handelsüberschuss durch den Export von Präzisionsmaschinen,
aber auch pharmazeutischen und chemischen Produkten schreibt der Staat
normalerweise schwarze Zahlen. Insgesamt beläuft sich das Schweizer
Bruttoinlandsprodukt auf 500
Milliarden Dollar pro Jahr, wobei Finanzdienstleistungen mit elf Prozent einen
höheren Beitrag leisten als in den meisten anderen Ländern. Die Schweiz nimmt
unter den gröÃten Volkswirtschaften der Welt Platz 21 ein, eine denkwürdige
Position, denn sie bedeutet, dass die Schweiz nicht zu G20-Gipfeln eingeladen wird.
Eine Kränkung, die noch immer schmerzt.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die
jüngste Wirtschaftskrise die Schweiz weit weniger erschüttert hat als viele der G 20-Mitglieder,
und zwar hauptsächlich weil der Immobilienmarkt ebenso stabil ist wie der
Franken. Hier kennt man weder Boom noch Crash, denn die meisten Bürger wohnen
zur Miete. Nur 35
Prozent der Schweizer besitzen ein Eigenheim, in einer Stadt wie Bern sind es
lediglich elf Prozent, es ist also praktisch umgekehrt wie auf dem britischen
Markt. Das ist teilweise kulturell bedingt â die eigenen vier Wände sind in der
Schweiz nicht das A und O Â â, aber es ist auch eine Frage des Geldbeutels, weil man eine Anzahlung von 20
Prozent leisten muss. Es gibt Leute, die ihr ganzes Leben in ein und derselben
Mietwohnung zubringen, was als risikolose, vernünftige Option betrachtet wird
und nicht als Geldverschwendung.
Dass jeder mietet, hat seine Vorteile. Kein Streben
nach immer besserem Wohneigentum, keine Immobilienhaie, und da man mit
Immobilien kein Vermögen machen kann, läuft man auch nicht Gefahr, eines zu
verlieren. Negativer Marktwert â was ist das denn? In den GeschäftsstraÃen sind
Immobilienmakler dünn gesät, die Immobilienanzeigen in den Zeitungen halten
sich in Grenzen, und im Fernsehen laufen nicht ständig irgendwelche
Renovierungs- und Umzugsserien mit Einrichtungstipps. Dafür muss man schon zum
deutschen Fernsehen umschalten. Kaufen oder nicht kaufen, diese Frage stellt
sich in der Schweiz bei vielen Waren, aber selten bei Häusern.
Das Beste daran ist, dass die StraÃen nicht durch
einen Wald aus »Zu-verkaufen«-Schildern verschandelt werden. Stattdessen steht
auf vakanten Grundstücken oft ein Ensemble aus vier magersüchtigen
Marsraumschiffen. Es handelt sich um Dreibeinstative aus Metall oder Holz,
welche die Dimensionen, Standort und Höhe geplanter Neubauten visualisieren. In
der Schweiz muss jedes Bauvorhaben auf diese Weise angezeigt werden. Das gilt
auch für Hochhäuser, für die mit Drahtseilen stabilisierte Masten wie aus
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