Der Schweizversteher
Ãbergangsritus, den jeder
männliche Schweizer durchlaufen muss, bevor er in die Gesellschaft aufgenommen
wird. Ich spreche nicht davon, wie er zum ersten Mal Alphorn bläst oder seinen
ersten Gewehrschuss abfeuert â nein, er muss sein ureigenes Schweizer
Armeemesser selbst fertigen, und zwar von Grund auf. Tatsächlich haben nur sehr
wenige Schweizer Gelegenheit, das wirklich zu tun. Diese Ikone zusammenzubauen
ist nichts, was wir gewöhnliche Sterbliche jederzeit in Angriff nehmen könnten.
Normalerweise ist die Fabrik für die Ãffentlichkeit nicht zugänglich, offen ist
nur der Shop, aber dank einer Wechselausstellung ergab sich für kleine Gruppen
in organisiertem Rahmen die Möglichkeit, ein eigenes Messer herzustellen. Man musste
fest im Voraus buchen, weil die Plätze an der Werkbank rar und sehr gefragt
waren, aber ein Freund von mir ist Schweizer vom Scheitel bis zur Sohle und hat
es daher geschafft, uns beide rechtzeitig anzumelden. An einem grauen
Septembersamstag machen Markus und ich uns also auf, um in der tiefsten Schweiz
das ultimative Symbol der Schweizer Männlichkeit zu fabrizieren.
Unser Ziel ist die Gemeinde Schwyz, der die Schweiz
ihren Namen verdankt und in der auch der Bundesbrief aufbewahrt wird (Näheres
in Kapitel zwei). Eben hier hat Karl Elsener 1884 seine
Messerschmiedewerkstatt eröffnet und sich darangemacht, das Taschenmesser zu
erfinden, das ihn berühmt machen sollte. Auf der Karte sah die Fahrt ganz
einfach aus, aber als wir aus dem Schwyzer Bahnhof treten, wird schnell klar,
dass wir nicht dort sind, wo wir sein wollten â die SBB nimmt sich offenbar ein Beispiel an den Flughafenbezeichnungen der Ryanair.
Denn der Schwyzer Bahnhof ist nicht etwa in Schwyz, sondern in Seewen
(beziehungsweise in Seewen-Schwyz), eine Busfahrt weit entfernt. Bis wir das
gemerkt haben, ist der Bus allerdings schon abgefahren, denn er wartet nur kurz
auf die Umsteigepassagiere aus dem Zug. Dieses eine Mal ist das Schweizer
Verkehrsnetz nicht das leuchtende Beispiel für übermenschliche Perfektion, was
irgendwie auch sympathisch wirkt. Allerdings bleibt uns nichts anderes übrig
als zu laufen. Zwanzig Minuten später sind wir dann aber in Schwyz, bereit für
unseren groÃen Taschenmesser-Moment.
Victorinox mag nicht überall in der Welt ein Begriff
sein, bleibt aber für englischsprachige Fernsehzuschauer unvergesslich, die
Ende der 1980er-Jahre MacGyver gesehen haben, eine Serie, die auch in
Deutschland recht populär war. Es gab kaum ein Problem, das Angus MacGyver
nicht mit dem vertrauenswürdigen roten Gerät lösen konnte. Seine internationale
Popularität verdankt es amerikanischen GIs, die es nach dem Zweiten Weltkrieg
mit in ihre Heimat nahmen; ohne sie wäre das Schweizer Armeemesser geblieben,
was sein Name sagt, nicht mehr und nicht weniger. Doch seine Kompaktheit und
Robustheit lieÃen es zum Inbegriff der Schweizer Design- und Handwerkskunst
werden.
Witzig allerdings, dass das Messer, das wir alle
kennen und lieben, gar nicht das von den Schweizer Soldaten benutzte ist. Das 1891
eingeführte ursprüngliche Soldatenmesser war schwarz und hatte nur vier
Werkzeuge, es fehlte etwa der Korkenzieher, der fürs Ãberleben nicht unbedingt
nötig erschien. Und das neueste Soldatenmesser, das allen Schweizer Rekruten
ausgehändigt wird, ist grün und gröÃer als ein Schweizer Armeemesser. Und hat
immer noch keinen Korkenzieher. Das zu Weltruhm gelangte Taschenmesser ist das
am 12.
Juni 1897
patentierte Schweizer Offiziersmesser, das nie zur Ausrüstung gehörte, sondern
privat gekauft werden musste. Selbstverständlich war (und ist) ein Korkenzieher
für einen Offizier unentbehrlich, und so hatte dieses Messer von Anfang an
einen.
Taschenmesser waren keine neue Erfindung, aber Elsener
veränderte den inneren Aufbau, sodass mehr Klingen hinzugefügt werden konnten,
ohne den Umfang zu vergröÃern. Das erste Offiziersmesser dient seither als
Vorlage für alle Taschenmesser dieser Firma, wobei in jedem Jahrzehnt neue
Funktionen hinzukamen. Jedes nur vorstellbare Werkzeug wurde seither in ein
Schweizer Armeemesser integriert: Nagelfeile, Drahtabisolierer, Lupe,
Höhenmesser und als Neuestes ein USB -Stick. Nicht
alle haben überdauert. Der schönste Teil der Ausstellung ist die Vitrine mit
den Prototypen, die nie produziert wurden. Einer mit einer Minigabel oder einem
Kamm wirken ein
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