Der Schweizversteher
Stadtzentrum sehen aus wie der Strand von
Brighton oder Rimini, zwischen all den Handtüchern und Körpern lugt kaum mehr
ein Grashalm oder Sand hervor. Der lange Sommerabend verspricht guten Umsatz
für das Café, Hunderte von Menschen sind bereit, Geld für Essen und Getränke
auszugeben. Doch was passiert? Um Punkt 18.00 Uhr werden alle
hinausgeworfen. Da Feiertag ist, schlieÃt das Bad früher als sonst. Ganz
gleich, wie viele Menschen sich hier am vielleicht heiÃesten Tag des Jahres
versammelt haben: Ãffnungszeiten werden in der Schweiz strikt eingehalten, was
in diesem Fall ganz einfach gemein ist. Die Einzigen, die deswegen meckern,
sind Ausländer; sämtliche Schweizer verlassen klaglos das Bad, denn für sie war
sonnenklar, dass feiertags um 18.00 Uhr die Bäder schlieÃen, punkt-um. Da
dämmerte mir, dass es für einen Schweizer etwas noch Wichtigeres gibt als Geld,
und zwar Zeit. Beides zusammengenommen, kommt der Schweizer Vorstellung vom
Himmel recht nah â dem Rest der Welt auch unter dem Namen Uhrenindustrie
bekannt.
Auf den Glockenschlag
Nichts verkörpert Schweizer Qualität und Präzision
besser als eine Schweizer Uhr. Die Uhrenindustrie ist die schweizerischste
aller Schweizer Branchen und eine der groÃen Erfolgsgeschichten des Landes.
Während viele der beteiligten Firmen eher klein sind, ist die Uhrenindustrie
als solche ein riesiges Geschäft. 2008 exportierte die Schweiz 21,7
Millionen Zeitmesser, eigentlich kaum der Rede wert, wenn man es mit den
chinesischen Exportzahlen (550
Millionen) vergleicht. Doch bei den Schweizern geht Qualität vor Quantität, was
sich nirgends deutlicher zeigt als im Preis: Eine aus China exportierte Uhr
kostet durchschnittlich zwei Dollar, eine aus der Schweiz 563 Dollar. Kein Wunder,
dass allein die Schweizer Uhrenindustrie jährlich Ware im Wert von 13,2
Milliarden Dollar exportiert.
Daran ist allein Calvin schuld. Bei seinem Versuch,
Genf zur perfekten puritanischen Stadt zu machen, verbot er 1541
jeglichen Schmuck und zwang die Handwerker damit, sich einem neuen Feld
zuzuwenden: den Uhren. Das erwies sich für sie als so segensreich, dass sie
sechzig Jahre später die erste Uhrmacherzunft der Welt gründeten. Ein
Jahrhundert danach waren sie so erfolgreich geworden, dass nicht mehr alle in
Genf Platz fanden und viele die Stadt verlieÃen, um in den Ausläufern des
Juragebirges ihr Geschäft zu eröffnen. Und so werden manche der berühmtesten
Schweizer Uhren bis heute entlang der französischen Grenze gefertigt: Omega und
Swatch in Biel/Bienne, Tag Heuer in La Chaux-de-Fonds, Zenith und Tissot in Le
Locle. Verständlich, dass die jeweiligen Orte aus ihrer Verbindung mit dieser
Industrie gröÃtmöglichen Nutzen ziehen wollen, sie haben sich inzwischen unter
dem Namen »Tal der Uhren« zusammengeschlossen. An dieser Stelle bietet sich ein
Schnellkurs in Uhrmacherkunde an, man beginnt am besten in La Chaux-de-Fonds,
der geistigen Heimat dieser Kunst (siehe Romandie-Karte).
Diese Stadt, nur ein paar Kilometer von der
französischen Grenze entfernt, war in ihrer Blütezeit im 19. Jahrhundert berühmt für
ihre Handwerker und Uhren und untermauerte den glänzenden Schweizer Ruf.
AuÃerdem ist La Chaux-de-Fonds ein herausragendes Beispiel für »moderne«
Stadtplanung. 1794
bis auf die Grundmauern niedergebrannt, wurde die Stadt auf einem
Schachbrettgrundriss wiederaufgebaut, und zwar mit (identischen) vierstöckigen
Häusern, die auf die Bedürfnisse der Uhrmacher zugeschnitten waren. Mit seinen
knapp 38Â 000
Einwohner ist es die drittgröÃte französischsprachige Stadt der Schweiz und mit
1000
Metern über dem Meeresspiegel eine der höchstgelegenen des Landes.
Ich sah meinem Besuch dort mit groÃen Erwartungen
entgegen â doch ich wurde enttäuscht. La Chaux-de-Fonds ist hässlich. Natürlich
verwöhnt einen die Schweiz mit ihren vielen schnuckeligen Städtchen und
mittelalterlichen Gebäuden, aber auch nach normalen MaÃstäben ist der Ort
reizlos. Er wirkt wie eine Kreuzung aus einer vernachlässigten französischen
Provinzstadt mit den Resten einer zaristischen Zentralplanung. »Trostlos«
trifft es wohl am besten. Vielleicht entfaltet er im Hochsommer mehr Charme,
obwohl ich mir selbst dann kein munteres Treiben in den StraÃen vorstellen
kann. An einem kalten Januartag jedenfalls fühlt man sich
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