Der Schwimmer: Roman (German Edition)
unterstrichen, mit mehreren Ausrufezeichen versehen und ihren Namen daruntergesetzt, einfach nur ihren Namen. Sonst stand nichts auf der Karte. Warum kommt sie nicht zurück, fragte ich Großmutter, und sie antwortete, weil sie nicht kann, und ich wußte keinen Grund, warum sie nicht konnte, warum sie nicht einfach in einen Zug steigen und zu uns fahren konnte.
Großmutter blieb eine Weile bei uns, und mit ihr kehrten die Tage in Vat zurück. Ich erinnerte mich an die Stimmen meiner Eltern, an die Stille, die sich nach einem Streit über das Haus legte. Eine Zeitlang stritten meine Eltern fast jede Nacht. Kurz bevor meine Mutter uns verließ, taten sie das kaum noch. Daß es kein gutes Zeichen war, wußte ich erst, als meine Mutter nicht mehr bei uns war. Meist stritten meine Eltern, wenn sie glaubten, Isti und ich schliefen schon. Wenn ich aufstand, mich an die Küchentür lehnte und mein Ohr an das Holz preßte, schnappte ich Wortfetzen auf. Warum, fragte meine Mutter, hast du mich hochgehoben, bis zur Sonne? Sie hatte diese Art zu reden. Ich verstand nicht, über was sie sprach, was das heißen sollte: bis zur Sonne.
Als meine Großmutter im Januar mit dem Nachmittagszug abfuhr, blieben Isti und ich noch auf dem Bahnsteig stehen, lange, nachdem der Zug verschwunden war. Wir rührten uns nicht, und mein Vater ließ uns. Er spazierte auf und ab, rauchte und wartete, bis wir bereit waren zu gehen. Isti hatte sich zuerst geweigert mitzukommen, dann, auf dem Bahnsteig, hatte er um sich geschlagen, gebrüllt, geweint und schließlich gefleht, Großmutter solle ihn mitnehmen. Er war in den Zug geklettert, er hatte sich versteckt, mein Vater hatte ihn wieder herausgeholt, er hatte sich auf die Schienen geworfen, bis jemand von der Zugstation zu meinem Vater sagte, er müsse dieses Kind festhalten.
Wir nahmen den Bus zurück, fuhren an Pappelreihen entlang, über dieses flache Stück Land, auf dem ein dunkelblauer Himmel zu kleben schien. Isti und ich, wir knieten auf der Rückbank und schauten aus dem Fenster auf den Asphalt, den die Bremslichter in ein blasses Rot tauchten. Isti verbrachte die nächsten Tage in seinem Dämmerzustand. Wenn ich es nicht mehr ertrug, spritzte ich Wasser auf seine Stirn, in der Hoffnung, er möge davon aufwachen, hochschrecken und zu sich kommen. Das Wasser bahnte sich seinen Weg über Istis Stirn, über seine Nase, über seine Lippen. Isti bemerkte es nicht einmal.
Er bemerkte auch andere Dinge nicht. Ich glaube, er wußte nicht, wie lange wir bei Zsófi waren, wie lange wir dort blieben, und ich, ich wußte es auch nicht mehr. Sie gingen vorbei, diese Winter, ohne daß wir wußten, wann sie anfingen oder aufhörten. In jedem Fall blieben wir so lange, bis Zsófis Tochter Anikó draußen auf den Feldern mit uns spielen konnte. Vielleicht bringe ich die vielen Winter auch schon durcheinander.
In einem dieser Winter, an einem dieser langen, dunklen Abende fing Jenő an, Isti Lesen und Schreiben beizubringen. Warum er das tat, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß er Isti und mich besonders mochte. Er machte sich einen Spaß daraus, Isti an den Hosenträgern hochzuhalten und dann fallen zu lassen. Trotzdem lehrte er ihn das Alphabet, jeden Tag fünf Buchstaben, die As und Ös, die kurzen, die langgezogenen, die S- und Z-Laute, weich und hart. Heute denke ich, Zsófi hatte Jenő darum gebeten, und er hat es ihr nicht aus-geschlagen.
Zsófi selbst hatte als Mädchen davon geträumt, eine Klasse zu haben, dort unten, neben der Kirche, wo die Schule ist, und davon, im Dorf mit gesenktem Blick begrüßt zu werden. Vom Bäcker, vom Metzger, vom Friseur und vom Pfarrer. Sie hatte davon geträumt, ihr Haar kurz zu tragen und Röcke aus gutem Stoff, die sie bei der Schneiderin würde nähen lassen, nach Schnittmustern auf Butterbrotpapier. Sie hatte davon geträumt, allein alt zu werden, vor einem Kamin zu sitzen, neben einem Glasschrank voller Bücher, und ihre Hände zu betrachten, die fein bleiben würden bis ins hohe Alter.
Dann lernte sie mit achtzehn Pista kennen, an einer Schießbude drei Dörfer weiter. Er schoß eine Rose für sie und steckte sie in ihr Haar, während sich ein Kettenkarussell drehte und Zsófis Freundinnen aufschrien. Zsófi heiratete Pista, als sie neunzehn wurde. Zur Hochzeit trug sie ein dunkelrotes Halsband aus Samt, und im selben Ton Handschuhe zum weißen Kleid. Sie habe ausgesehen wie ein Lämmlein, das weggeführt wird, erzählte man sich. Bald darauf
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