Der Schwur der Ritter
nachgelassen.
Ein Lichtstrahl zog ihren Blick auf sich, und als sie den Kopf hob, sah sie die Sonne durch eine Lücke in der Wolkendecke hervorbrechen. Der Lichtstrahl verschwand zwar fast im selben Moment wieder, doch nicht weit entfernt fiel der nächste durch die Wolken und dann noch einer. Jessie spürte, wie die Aussicht auf ein Ende der unablässigen Stürme ihre Lebensgeister erwachen ließ.
Sie beugte sich noch einmal vor und griff nach einem großen Lederbeutel, der zwischen den beiden schlafenden Frauen lag. Sie öffnete ihn und zog eine zusammengefaltete Decke hervor, die zum Glück trocken geblieben war. Sie schlug die Decke aus und legte sie sich um Kopf und Schultern. Vorsichtig darum bemüht, ihre schlafenden Schützlinge nicht zu stören, ließ sie sich zwischen ihnen zum Sitzen nieder und lehnte sich an das Schott, in dessen Windschatten das Zelt stand. Sie zupfte die Decke so zurecht, dass sie ganz darunter verschwand, und bevor sie auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, war sie selig in den Schlaf gesunken.
2
S
IE TRÄUMTE, DASS jemand aus großer Entfernung ihren Namen rief, als sie die Augen aufschlug und Bruder Thomas, den Sakristan, mit mürrischer Miene vor sich stehen sah. Sie blinzelte verwirrt, versuchte, die Hände zu heben, um sich die Augen zu reiben, konnte sie aber nicht schnell genug aus der Hülle ihrer Decke ziehen, und als sie sie endlich befreit hatte, wusste sie auch wieder, wo sie war. Rechts und links von ihr schliefen Marie und Janette immer noch tief und fest, und sie fuhr sich mit dem Finger an die Lippen, um den Sakristan zu warnen, sie ja nicht zu wecken.
Der Mann verzog bei ihrer Geste das Gesicht, doch sie beachtete ihn nicht weiter und erhob sich, so würdevoll es unter seinen Blicken möglich war. Sie wusste, dass er sie verachtete, weil er ihre Anwesenheit inmitten seiner heiligen Bruderschaft missbilligte. Sie fühlte sich zwar dadurch nicht beleidigt, weil sie davon ausging, dass er auf jede andere Frau genauso reagiert hätte, doch war er ihr zusätzlich auf den ersten Blick durch und durch unsympathisch gewesen.
Unglücklicherweise stellte sich jedoch heraus, dass sie einander nicht aus dem Weg gehen konnten, denn Bruder Thomas war für das persönliche Wohlergehen des Admirals zuständig – was auf der beengten Galeere bedeutete, dass er St. Valéry niemals aus den Augen oder außer Hörweite ließ. Da er Jessie für ein Werkzeug des Teufels hielt, das rechtschaffene Männer vom Pfad der Tugend abbringen sollte, hatte er ihr den Zugang zur Kajüte des Admirals verweigert, als dieser krank wurde. Ihr war nichts anderes übrig geblieben als sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das in Wut versetzte.
Nun wandte sie sich an den Mann. »Was wollt Ihr?«
Bruder Thomas errötete schwach. »Der Bruder Admiral möchte Euch sprechen.«
»Der Bruder Admiral, so so.« Jessie sah den Sakristan unverblümt an. »Ich frage mich, was Sir Charles wohl von dieser Vertraulichkeit hält. Mein lieber verstorbener Gemahl hat immer gesagt, dass wir uns unsere Freunde aussuchen können, mit unseren Verwandten aber von Geburt an geschlagen sind.« Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten, sondern setzte sich in Bewegung und steuerte auf das Quartier des Admirals am Heck der Galeere zu. »Ich werde nach ihm sehen.«
Sie bewegte sich mühelos im Einklang mit dem Heben und Senken des Schiffes und erfreute sich an der plötzlichen, zunehmenden Helligkeit des Nachmittags, an den wachsenden blauen Lücken in den Wolken … und an der Hast des Sakristans, der ihr im Laufschritt folgte. Als sie an Deck die Tür der winzigen Kajüte des Admirals erreichte, war Thomas immer noch mehrere Schritte hinter ihr und konnte sie nicht daran hindern, zu klopfen und die Tür zu öffnen.
Innen saß Charles de St. Valéry vollständig bekleidet an einen Stapel Bettwäsche gelehnt. Er blinzelte ihr mit schmerzvoll verzogener Miene entgegen und hielt sich die Hand zum Schutz gegen das blendende Licht über die Augen, das ihm durch die Tür entgegenströmte. Sein Haar war ungekämmt, seine Kleidung zerknittert, und Jessie zuckte bei seinem Anblick mitfühlend zusammen. Bruder Thomas trat nun an ihrer Seite ein und erhob protestierend die Stimme, doch sie schnitt ihm mit einer abrupten Handbewegung das Wort ab. Um einen scherzhaften Ton bemüht, sprach sie dann ihren Schwager an.
»Bruder Charles, es freut mich zu sehen, dass Ihr den Sturm überlebt habt, obwohl ich kaum fassen kann, wie
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