Der Schwur der Ritter
Thomas, seid Ihr auch krank gewesen wie die anderen?«
Der Sakristan schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Bruder Admiral, Dank sei Gott.«
»Habt Ihr an dem Tag, an dem der Sturm ausgebrochen ist, Fleisch gegessen?«
»Ich habe gar nichts gegessen, Bruder. Es war der Jahrestag des Todes meiner Mutter, und ich habe den ganzen Tag gefastet.«
»Hmm.« St. Valéry leerte seinen Becher in einem Zug. Während Thomas ihm nachschenkte, sah er sich sorgfältig um. »Der Sturm ist vorbei«, sagte er. »Die Sicht beträgt vier Meilen.« Nun richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und suchte den Horizont ab, bevor er Jessie zuwinkte. »Dort, da ist ein Mast, und wo einer ist, gibt es gewiss noch mehr.« Sein Blick kehrte auf sein eigenes Schiff zurück, auf dessen Deck verknäulte Taue und andere Überbleibsel des Sturms im Weg lagen. »Doch immer der Reihe nach. Ich muss meine Mannschaft zusammentrommeln, damit sie das Schiff wieder in einen einsatzfähigen Zustand versetzt. Thomas, holt mir Kapitän de Narremat – egal, in welchem Zustand, solange er nur unter den Lebenden ist. Und sucht auch die anderen Offiziere. Wenn sie verdorbenes Fleisch gegessen haben, was ich vermute, dann sollte es ihnen inzwischen besser gehen, und sie werden sich schneller erholen, wenn sie arbeiten, als wenn sie sich selbst bemitleiden. Dasselbe gilt ab sofort für mich.«
3
D
AS ABENDESSEN, DAS der Admiral gemeinsam mit seinem Ehrengast zu sich nahm, unterschied sich nicht von dem, was auch der rangniedrigste Ruderer an Bord aufgetischt bekam: eine dünne Scheibe Pökelfleisch, das diesmal sorgfältig begutachtet worden war, dazu trockene Räucherwust, Hartkäse aus Ziegenmilch, so viel Zwieback, wie man essen konnte, und eine Handvoll Rosinen. Immerhin jedoch genossen er und die Frau seines Bruders das Privileg, auf dem kleinen Achterdeck essen zu können, wo sie sich zumindest einbilden konnten, für sich zu sein – und sie konnten einen Becher Wein aus dem persönlichen Vorrat des Generals genießen. Über ihren Köpfen wehte das große Segel, das sie entlang der Nordküste der Iberischen Halbinsel nach Westen trug.
Jessica schluckte den letzten Rest ihres sorgfältig gekauten, vollkommen geschmacklosen Zwiebacks herunter und gestattete sich einen sehnsuchtsvollen Gedanken an das knusprige französische Brot, das sie so geliebt hatte. Doch dann konzentrierte sie sich wieder auf ihren Gastgeber, denn St. Valéry blickte schon seit einiger Zeit schweigend auf die See hinaus, und sie hatte den Eindruck, dass die Erschöpfung in seinem Gesicht auf mehr zurückzuführen war als nur auf seine Krankheit.
»Er muss Euch sehr fehlen«, sagte sie plötzlich.
»Wen meint ihr?«, fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
»Verzeiht … aber ich habe das Gefühl, dass Ihr in Gedanken bei Eurem Freund de Thierry seid. Doch ich wollte Euch nicht zu nahetreten …«
Er lächelte, auch wenn sein Blick bedrückt blieb. »Ihr habt recht. Ich habe an Arnold gedacht. Welch grausames Ende für so einen großen Mann.«
»Erzählt mir von ihm. Ihr seid doch sehr lange mit ihm befreundet gewesen, nicht wahr?«
»Das bin ich, ja. Man hat uns les jumeaux genannt – die Zwillinge, weil wir uns im Lauf der Jahre zunehmend ähnlicher geworden sind. Selbst unsere Bärte sind zur selben Zeit ergraut. Wir sind uns vor einunddreißig Jahren auf der Galeere begegnet, die uns beide von Rhodos nach Limassol auf Zypern gebracht hat, wo wir gemeinsam in den Orden aufgenommen worden sind. Und wir sind vom ersten Moment an gute Freunde gewesen. Arnold war damals einundzwanzig, ich fünfundzwanzig. Er war bereits Witwer, denn er hatte seine Frau und seinen Sohn im Kindbett verloren. Der Orden wurde seine Lebensaufgabe, und er wurde einer der meist geehrten Tempelritter. Er hat fünfzehn Jahre im Heiligen Land verbracht, bis hin zur letzten Belagerung von Acre.«
»Er hat ebenfalls Acre überlebt?«
»Er wurde früh verwundet und evakuiert. Danach wurde er mit dem Posten in La Rochelle geehrt.«
»Und wo wart Ihr während dieser Zeit?«
»Auf See, wo sonst. Bis ich in La Rochelle vor Anker gegangen bin, habe ich mein ganzes Leben auf See verbracht.«
»Und was hat Euch nach La Rochelle verschlagen?«
»Meine Freundschaft mit Arnold – sogar in zweierlei Hinsicht. La Rochelle ist die wichtigste Kommandantur des Ordens, der wichtigste Umschlagplatz zwischen der See und dem Festland, und es ist unabdingbar, dass die beiden Kommandanten der Flotte und der
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