Der Schwur des Maori-Mädchens
einem älteren Herrn, der mit Sicherheit auch unter seiner weißen Perücke bereits weißes Haar besaß. Er machte einen gütigen Eindruck und wirkte beruhigend auf sie. Doch sie wusste, dass er nicht viel zu sagen hatte. William hatte ihr in allen Einzelheiten geschildert, wie dieser Prozess ablaufen würde. Über ihre Zukunft entschieden die zwölf Geschworenen, die ihr gegenüber auf der anderen Seite im Saal saßen. Es half nichts. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen. Ein Schreck durchfuhr ihre Glieder, als sie nur weiße Männer mittleren Alters erblickte.
Hatte William nicht versprochen, die Jury in ihrem Sinn auszusuchen? Maori und Frauen durften offenbar nicht ausgewählt werden. Daran hätte sie denken müssen. Ihr Blick verfinsterte sich angesichts dieser Front von verschlossenen Männergesichtern. Sie versuchte Fassung zu bewahren, als der Ankläger, Mister Owen, ein untersetzter kleiner Mann mit einem kahlen Schädel und listigen Augen, mit donnernder Stimme verkündete, dass die hier anwesende Emily Newman im Namen der Königin beschuldigt werde, durch grobe Fahrlässigkeit den Tod der Farmersfrau Claire Füller und ihres ungeborenen Kindes verursacht zu haben.
Bei Nennung des Namens Emily Newman zuckte Lily unmerklich zusammen. Sie befürchtete, dass ihr die Tatsache, dass sie als verheiratete Frau mit einem anderen Mann unter dessen Namen zusammengelebt hatte, nicht zum Vorteil gereichte. Ihr Mut sank ins Bodenlose, als sie einen Blick in den Zuschauerraum wagte. Da hockten jene Männer mit anklagenden Mienen, die es allein Tamati und ihr zu verdanken hatten, dass ihre Kinder heute am Leben waren. Ihre Ehefrauen standen auf Lilys Zeugenliste. Die werden unter diesen Umständen niemals für mich aussagen, dachte sie verzweifelt, und sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, als der Ankläger die Lügen Mister Füllers zum Besten gab, als wären sie nichts als die Wahrheit. Und wer das hörte, musste sie doch für eine entsetzliche Pfuscherin halten. Sie habe mit obskuren Mitteln wie einer inneren Wendung versucht, das Kind im Mutterleib zu drehen, und es dabei getötet und seine Frau lebensgefährlich verletzt. Deshalb habe er sie ihren Händen entrissen. Weil er nicht wollte, dass sie auf dieser Liege in der Praxis starb, sondern zu Hause in ihrem Bett unter würdigen Umständen ...
Lilys undurchdringliche Gesichtszüge entgleisten bei so viel Unsinn, und sie verdrehte die Augen. Gerade in dem Augenblick, als der Richter sie aufforderte, sich zum Tatgeschehen zu äußern.
Lily räusperte sich ein paarmal, weil sie einen Kloß im Hals verspürte. Mit heiserer Stimme begann sie zu sprechen. Sie schilderte, wie die Frau sie aufgesucht habe und wie ihr beim Abtasten des Bauches der Verdacht gekommen sei, das Kind sei tot. Der Bauch sei mit Hämatomen übersät gewesen, genau wie Oberarme und Schenkel. Sie habe vermutet, dass die Frau misshandelt worden sei.
»Pass bloß auf, was du sagst!«, brüllte es da unflätig aus dem Zuschauerraum.
»Hinaus! Verlassen Sie den Saal!«, befahl der Richter barsch, und Lily konnte nicht ohne Schadenfreude beobachten, wie einer ihrer erbittertsten Gegner aus dem Saal geworfen wurde. Doch dann überwog die Traurigkeit. Selbst wenn sie den Prozess gewinnen sollte, sie würde nie wieder den Frauen helfen können, weil sie das nicht durfte, es sei denn, sie studierte zu Ende, aber in ihrem Alter?
»Fahren Sie fort«, forderte der Richter sie höflich auf.
»Nach den Verletzungen zu urteilen, musste ich von einer Misshandlung ausgehen. Ob das Kind durch äußere Einwirkung zu Tode gekommen war oder durch etwas anderes, konnte ich nicht feststellen. Um das Leben der Mutter zu retten, gab es nur eines: Ich musste die Geburt einleiten. Doch als gerade die Wehen einsetzten, kam Mister Füller und zerrte seine Frau brutal von der Liege und aus dem Behandlungsraum ...«
Lily wusste, dass sie nun von ihrem Anwalt und dem Ankläger ins Kreuzverhör genommen würde.
William trat forsch vor und lächelte ihr gewinnend zu.
»Misses Newman, haben Sie einen irgendwie gearteten medizinischen Eingriff bei Claire Füller vorgenommen?«
»Ich habe ihren Bauch vergeblich nach Herztönen abgehört.«
»Das war alles?«
»Ja, und weil ich vermutete, das Kind sei tot, musste ich die Geburt einleiten, denn es war bereits übertragen, das heißt, länger im Mutterleib, als es sein sollte.«
»Und wie haben Sie das gemacht?«
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