Der Schwur des Maori-Mädchens
Verwandte, äh, Nichte meiner Mutter.«
Vivian kämpfte mit sich. Ihr ging es gegen den Strich, den Alten länger zu belügen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihm endlich zu gestehen, dass es ihre Geschichte war, um die es hier ging. Doch Fred lag ihr einfach zu sehr am Herzen. Sie wollte nichts unternehmen, womit sie ihm schaden könnte.
Sie atmete ein paarmal tief durch. »Ja, wir lassen Sie dann lieber allein«, brachte sie schließlich gequält hervor.
»Morgen werde ich weitererzählen. Von meiner schönen Schwester und dem Verbrechen, das man an ihr begangen hat«, verkündete der Alte traurig.
Ohne Vorwarnung wurden Vivians Augen feucht. »Dieses Schwein«, murmelte sie. »Dieses verdammte Schwein. Wie konnte er ihr das nur antun? Ich hätte ihn verraten.«
Matui streckte seine Hand nach Vivian aus und strich ihr zärtlich über die Wange.
»Du sprichst mir aus dem Herzen, mein Kind, aber manchmal entwickeln sich die Dinge anders, und man kann nicht mehr das tun, was man eigentlich tun wollte.«
»Ich vermute, Sie selbst sind dieser Matui, von dem Sie uns berichtet haben«, erklärte Fred, ganz im sachlichen Ton eines Zeitungsmannes. »Und Maggy ist Ihre Schwester, nicht wahr?«
Matui lächelte geheimnisvoll. »Matui ist ein häufiger Name im Norden«, erwiderte er ausweichend und musterte Fred eindringlich. »Hab Geduld, mein Junge! Wenn du für die Wahrheit bereit bist, dann werden die Ahnen sie dir durch mich übermitteln.«
Vivian musste sich ein Grinsen verkneifen. Als ob der Alte etwas von Freds doppeltem Spiel ahnte und deshalb nicht zu viel auf einmal verriet. Dabei war sie nicht minder neugierig zu erfahren, ob Matui Hone Heke tatsächlich der Ziehsohn ihres Ururgroßvaters - des Missionars - war. Eigentlich konnte sie sich das nicht so recht vorstellen. Das Ganze lag schließlich länger als achtzig Jahre zurück. Dann wäre der Maori ja inzwischen weit über neunzig, und das hätte selbst bei einem Weißen an ein Wunder gegrenzt. Und wie hatte sie in ihrem Buch auf der Überfahrt gelesen? Die Lebenserwartung der Maori war in der Regel geringer als die der Europäer.
»Wie alt sind Sie eigentlich, Matui Hone Heke?«, hörte sie sich da bereits neugierig fragen.
Der Maori lächelte immer noch. »Zügle deine Neugierde, mein Kind, du wirst es noch früh genug erfahren. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und das wird erst sein, wenn ihr beide nicht mehr mit doppelter Zunge sprecht.«
Der Alte weiß genau, dass etwas nicht stimmt, durchzuckte es Vivian eiskalt, doch dann beugte sie sich zu dem alten Mann hinunter und rieb ihre Nase gegen die seine.
Matui Hone Heke lachte. »Du hast schnell gelernt, mein Kind. Man könnte glauben, du hättest unsere Kultur mit der Muttermilch eingesogen.«
»Nein, bestimmt nicht«, widersprach Vivian eifrig. »Meine Mutter ist eine waschechte Britin, die mit Sicherheit nicht gutgeheißen hätte, wenn jemand einen Fahnenmast mit dem Union Jack gefällt hätte.«
»Ich würde das auch nicht in jeder Lage gutheißen, mein Kind. Aber warte noch, bis du dir über das Handeln des Häuptlings ein Urteil bilden kannst.«
»Damit wollte ich nur sagen, dass ich Ihre Kultur niemals mit der Muttermilch eingesogen haben kann«, erwiderte Vivian schlagfertig und war erleichtert, dass der Alte immer noch lächelte. Nichts hätte sie schlimmer gefunden, als ihn zu beleidigen.
Auch Fred beugte sich nun zu Matui hinunter und reichte ihm die Hand, die der Alte nahm und herzlich schüttelte. Vivian stand auf und eilte nach draußen.
Vor der Tür sog sie die herrlich reine Luft ganz tief in ihre Lungen ein und genoss die prickelnde Wärme, die augenblicklich ihren Körper umhüllte. Eine Maori-Frau grüßte sie freundlich und sprach auf sie ein, aber sie verstand kein Wort. Sie nickte höflich, weil sie aus dem Redeschwall immerhin »Matui« heraushören konnte. Die Frau glich exakt dem Bild einer Maori, das Vivian auf den Illustrationen ihres Buches über Neuseeland gesehen hatte. Sie war untersetzt, besaß ausladende Hüften und ein polynesisches Gesicht. Ihre Nase war platt und kurz, und sie hatte volle Lippen, deren oberer Bogen ausdrucksvoll geschwungen war. Und sie lachte so ansteckend, dass Vivian mit einstimmte. Sie lachte auch noch, als die Frau längst in einer der Hütten verschwunden war und Fred ins Freie trat.
»Darf ich mich mit dir freuen?«, erkundigte er sich freundlich.
»Ich glaube
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