Der Schwur des Piraten
Sie waren sich uneins, welche Route sie einschlagen sollten, und diskutierten lebhaft, wobei sie mit ihren knöchrigen Fingern mal auf diese, mal auf jene Insel zeigten. Die Fähigkeit, klar zu denken, die Rummy und Skull im Gegensatz zu den anderen Legionären geblieben war, empfanden die beiden nicht als Privileg, sondern vielmehr als eine schwere Bürde. Denn sie waren sich ihrer misslichen Lage voll bewusst.
»Der Hunger wird langsam unerträglich, Rummy.«
»Ich weiß, Skull! Und dort gibt es Fleisch im Überfluss!«
»Aber es ist nun mal nicht unsere Entscheidung, wo wir an Land gehen.«
»Blödsinn! Hast du vergessen, was unser Meister gesagt hat? Der Hunger wird uns zu unserer Beute führen.«
Da hörten sie von oben ein fürchterliches Gebrüll und eilten an Deck. Am Horizont zeichnete sich die dunkle Silhouette einer Insel ab. Nahe der Küste flackerten die Lichter einer kleinen Siedlung. Die Dunklen Legionäre wurden von einem rohen Verlangen gepackt. Bald würden sie ihren Hunger stillen können.
An jenem Abend wurde gefeiert in Puerto Nuevo. Die sonst dunklen Gassen waren von bunten Laternen hell erleuchtet und die Häuser schmückten unzählige Blumen und Girlanden. Die Dorfbewohner tummelten sich auf dem Marktplatz. Sie tanzten ausgelassen zu fröhlicher Musik und schlemmten an reich gedeckten Tischen. Es war eine sorglose Feier, bei der die Leute für einige Stunden die Mühen vergaßen, die das Leben auf einer kleinen, unfruchtbaren Insel unweigerlich mit sich brachte. Es war schließlich nicht leicht, von einer kleinen, steinigen Parzelle Land zu leben.
Während im Dorf das Leben tobte, war der Hafen menschenleer. Zumindest fast. Auf dem Landungssteg hatte es sich Pedro auf prallen Maissäcken gemütlich gemacht. Mit seinen sechzig Jahren war er schon oft betrunken gewesen, so auch an jenem Abend. Sein Kopf brummte und das Lärmen der Feiernden, das vom Dorf an sein Ohr drang, war ihm nur lästig.
Er blickte aufs Meer hinaus. Obwohl der Mond hinter Wolken verborgen war, lag ein matter Glanz auf den Wellen. Pedro lauschte dem heiteren Plätschern des Wassers, das an die Kaimauern schlug. In Augenblicken wie diesen fühlte sich Pedro eins mit dem Meer und etwas weniger allein. Er liebte das Meer, selbst dann, wenn seine Wasser anschwollen und heulende Stürme tosende Wellen darüber hinwegpeitschten. Das Meer war schön, immer etwas anders und doch stets gleich.
Er ließ seinen Blick weiterschweifen, bis zum dunklen Horizont. Als Junge hatte er oft zum Horizont geschaut und sich vorgestellt, einmal großartige Dinge zu unternehmen, an Bord eines prächtigen Schiffes zu reisen, dessen weiße Segel an hohen Masten in den Himmel ragten.
Doch das Leben des alten Pedro war weit weniger abenteuerlich verlaufen. Tatsächlich hatte sich in den ganzen sechzig Jahren nichts wirklich Außergewöhnliches ereigne t – zumindest bis zu jenem Abend.
Vom Alkohol drehte sich alles in seinem Kopf, doch was er nun sah, war keine Sinnestäuschung: Ein Schiff mit schwarzen Segeln steuerte direkt auf die Insel zu.
Pedro hatte sich immer vorgestellt, der Tod würde ihn einmal auf einem Segelschiff ereilen und er würde ihm schon von Weitem ruhig entgegensehen, ohne davonzulaufen. Doch an jenem Abend blieb er nicht ruhig. Als das Schiff nah genug war und Pedro es genauer sehen konnte, traute er seinen Augen kaum. Entsetzt sprang er auf und lief ins Dorf.
»Halt’s Maul, alter Säufer!«, bekam Pedro zu hören, als er die Feiernden auf dem Dorfplatz warnen wollte, jedoch vor Angst und Aufregung nur zusammenhanglose Worte daherstotterte. Keiner wollte ihm glauben.
Er wusste sehr wohl, dass ihm der Alkohol schon manches Mal einen Streich gespielt hatte, indem er ihn Dinge sehen ließ, die gar nicht da waren. Aber diesmal nicht. Diesmal war er sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Wenig später hörte er hinter sich ein fürchterliches Knurren. Das Letzte, was Pedro sah, war ein weit aufgerissenes Maul mit zwei Reihen scharfer Zähne, das auf sein Gesicht zugeschossen kam.
Die Legionäre verschonten niemanden. Bald standen sämtliche Häuser des Dorfes in Flammen. Die letzten Überlebenden versuchten verzweifelt zu flüchten oder sich irgendwo zu verstecken. Doch die Legionäre waren überall. Sie witterten den kleinsten Tropfen Blut und stürzten sich gnadenlos auf ihre Opfer.
Der letzte Einwohner Puerto Nuevos starb bei Tagesanbruch. Vier Legionäre hatten sich über seinen Leib hergemacht und
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