Der Schwur
es gab keine.
Noch immer zitternd, hängte sie sich die Kette wieder um den Hals und beugte sich tief über Nachtfrosts Mähne. Das Einhorn wurde ein wenig langsamer und galoppierte so gleichmäßig weiter, als würde es niemals ermüden.
Allmählich verschwanden die Hügel und die Ebene war nun ganz flach und dehnte sich bis zum Horizont. Sonja versuchte, darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte – aber eigentlich war es ihr schon klar. Sie hatte das Amulett an sich genommen, also musste sie es Veleria zurückbringen. Hätte sie es nicht mitgenommen, wäre sie jetzt vielleicht schon zu Hause. Stattdessen galoppierte sie durch die Nacht einer fremden Welt, ohne etwas zu essen oder zu trinken und ohne die geringste Ahnung, wie sie die Aufgabe erledigen sollte, die Ganna ihr gestellt hatte. Eigentlich wäre sie viel lieber noch eine Weile mit den Elarim durch die Gegend gezogen, um sich an alles zu gewöhnen. Selbst die Birjaks erschienen ihr jetzt gerade wie eine sichere Zuflucht.
Aber wenigstens war sie nicht allein. Sie streichelte Nachtfrosts schwarzen Hals und erhielt ein freundliches Schnauben als Antwort, aber er galoppierte unbeirrt weiter. Sonja drehte sich auf seinem Rücken halb um und schaute nach hinten, konnte aber keine Spur der Reiter oder der Birjakherde mehr entdecken.
Weiter, immer weiter ... irgendwann merkte sie, dass die Sterne am Himmel zu verblassen begannen. Vor ihr wurde der Himmel allmählich heller. Immer wieder kamen sie an einzeln stehenden Bäumen vorbei. Sie war jetzt so müde, dass sie die Augen kaum mehr offenhalten konnte, und so bekam sie gar nicht richtig mit, dass es immer mehr Bäume wurden. Erst als Nachtfrost in Schritt fiel und dann stehen blieb, schreckte Sonja hoch und merkte, dass sie die Ebene verlassen hatten und sich in einem Wald befanden.
Im Morgenlicht sah der Wald still und friedlich aus. Nichts regte sich unter den hohen, geraden Bäumen, nur ein paar Vögel zwitscherten. Sonja rutschte von Nachtfrosts Rücken und schaute sich um. Jeder Knochen tat ihr weh; noch nie war sie so lange geritten. »Was jetzt? Wohnt hier Veleria?«
Nachtfrost schnaubte, senkte den Kopf und begann zu grasen. Offenbar war ihm nur nach einer Pause zumute. Sonja zögerte. Sie konnte sich doch nicht einfach hinlegen und einschlafen? Aber sie war zu müde, um lange darüber nachzudenken, und das Gras sah so weich und einladend aus ... vielleicht konnte sie ein bisschen dösen und Nachtfrost beim Grasen zusehen. Sie setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen silbriggrauen Stamm.
Innerhalb von zwei Minuten war sie fest eingeschlafen.
D
arian
Philipp begleitete Melanie nach Hause. Nicht, weil er sich Sorgen um ihre Sicherheit machte oder weil er sie plötzlich mochte, sondern nur, um mit ihr darüber zu reden, was mit Sonja passiert sein konnte. Sie gingen zu Fuß. Philipp stellte sein Moped zu Hause ab und ging dann neben Melanie her, die ihr Fahrrad schob. Sie musste ihm noch einmal erzählen, was am Freitag passiert war, und als sie den Ärger erwähnte, den sie zu Hause wegen des verlorenen Handys bekommen hatte, fragte er nochmals nach dem seltsamen Jungen, den sie gefunden hatte.
»Meine Mutter hat den Krankenwagen für ihn gerufen«, erzählte sie. »Ich wollte ihn jedenfalls nicht noch mal treffen – der war echt eklig. Er hatte ein riesiges Messer und hat mich angeknurrt! Der war verrückt!«
»Hat er denn etwas gesagt?«
»Ja, schon, aber ich hab’s nicht verstanden. Englisch oder Spanisch oder so war es nicht. Vielleicht Schwedisch? Weil er so blond war, meine ich. Aber der war auf jeden Fall verrückt, mit seinem blöden Messer.«
»Kannst du herausfinden, in welches Krankenhaus sie ihn gebracht haben?«
»Wieso? Besuchen will ich den ganz bestimmt nicht!«
»Aber ich«, sagte Philipp. »Vielleicht hat er ja irgendetwas gesehen oder gehört.«
»Wegen Sonja?« Bestürzt schaute sie ihn über ihr Fahrrad hinweg an. »Daran habe ich ja gar nicht gedacht ...«
»Hm«, machte Philipp nur; offenbar hatte sie ihn gerade wieder in seiner Meinung über dreizehnjährige Mädchen bestärkt. »Vielleicht hat er ja auch dein Handy noch. Dann kann er es dir zurückgeben und deine Mutter kommt wieder von der Decke runter.«
»Gute Idee! Ich frage sie mal, ob sie weiß, was das für ein Krankenhaus war!« Sie waren vor der Haustür des Bungalows der Familie Vittori angekommen und Melanie zögerte. »Ähm ... möchtest du reinkommen?«
Philipp lachte nur.
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