Der Schwur
hinunter, durch noch eine Tür, durch die Eingangshalle, vorbei an dem verdutzten Pförtner, durch die Drehtür – schneller, schneller! – und hinaus auf die Straße, wo Darian geradewegs vor ein Auto lief. In letzter Sekunde riss Philipp ihn zurück auf den Bürgersteig. »Bist du irre?«, brüllte er ihn an. »Pass gefälligst auf!«
Darian war totenblass und starrte Philipp nur wortlos an. In diesem Moment wurde Melanie schlagartig alles klar. Darian war nicht verrückt! Er war nur – fremd. »Philipp – er kennt keine Autos! Und keine Handys! Er weiß überhaupt nicht, was das hier alles ist!«
Philipp blinzelte. »Was? Aber – oh, zum Teufel! Egal! Los, kommt!«
Sie rannten den Bürgersteig entlang und um die Ecke, woPhilipp das Moped abgestellt hatte. Dort hielten sie an. »Darian, du setzt dich hinter mich und hältst dich an mir fest«, befahl Philipp. »Melanie, du musst laufen und dein Fahrrad holen. Wir treffen uns am Waldhof!« Er schwang sich auf das Moped, wartete, bis Darian hinter ihm saß, und startete den Motor. »Festhalten, Darian!« Und im Nu knatterten sie die Straße hinunter und waren weg.
Auf dem Weg zum Waldhof wurde es schon dunkel. Nebel kroch aus der Erde, die Luft war kalt, klamm und grau. Nieselregen sprühte Melanie ins Gesicht, als sie querfeldein radelte und wie beim Motocross über kleinere Unebenheiten im Gelände preschte. Eine dichte Wolkendecke hing über dem Wald, der düster und unfreundlich aussah. Komischerweise machte es Melanie nicht viel aus. Sie war zu beschäftigt damit, über Darian nachzudenken. Wo kam er her? Wie war er hergekommen? Wie konnte er seinen gebrochenen Fuß innerhalb von einem Tag heilen lassen? Und was wusste er über Sonja?
Philipps Moped stand auf dem Hof und sie hörte Stimmen aus Mickys und Bjarnis Stall. Es versetzte ihr einen Stich – viel zu lange hatte sie nicht an die beiden gedacht. Aber hatte es überhaupt noch einen Sinn, an sie zu denken? Sie waren weg und würden nie wiederkommen.
»Melanie, bist du das?« Philipp kam zur Stalltür. »Ah, gut. Komm rein. Wir haben es kalt und ungemütlich, genau das Richtige für einen netten Sonntagabend.«
»Philipp, meinst du nicht, wir sollten lieber woanders hingehen?«
»Nee«, sagte Philipp und verschwand wieder im Stall. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Rad abzustellen und ihm zu folgen.
Darian hockte oben auf der halbhohen Boxentür, die nackten Füße auf dem rissigen Holz. Im Halbdunkel konnte sie ihn nur undeutlich erkennen, aber seine Stimme war klar verständlich.
»Irgendwo hier wurde ein Zauber gewirkt«, sagte er. »Nur ein schwacher Zauber, und es ist schon eine Weile her. Aber er ist noch deutlich zu spüren.«
»Zauber«, sagte Philipp. »Das dürfte der Schlüsselbegriff sein, stimmt’s? Woher kommst du, Darian? Wie hat es dich hierherverschlagen?«
Der fremde Junge zögerte. Endlich sagte er: »Mein – hm – Reittier hat mich abgeworfen. Als ich zu mir kam, lag ich dort draußen am Waldrand, und sie –«, er machte eine Bewegung zu Melanie hin, »stand vor mir und redete. Ich verstand kein Wort, aber dann setzte ein Sprachzauber ein, und ich hörte, wie sie sagte, ich sei verrückt. Dann zog sie eine Waffe oder ein Zaubergerät oder was immer das bunte Ding ist. Ich drohte ihr und sie lief weg. Etwas später kam ein Wagen ohne Pferde. Ein paar Männer in Weiß untersuchten mich, banden mich auf einer Trage fest und brachten mich in dieses – Haus.« Er zögerte wieder. »Ich wollte nicht mit ihnen reden. Sie waren grob und unhöflich und gaben mir hässliche Namen. Was heißt ›medizinisches Wunder‹? So haben sie mich genannt, nachdem ich mich geheilt hatte.«
»Das heißt, dass sich hier bei uns niemand einfach so selbst heilen kann«, sagte Philipp, der ihm aufmerksam zugehört hatte. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Woher kommst du?«
Darian biss sich auf die Lippen. »Ich habe es euch gesagt. Aus Chiarron.«
»Ich dachte, das ist dein Name«, sagte Melanie.
»Ja, natürlich.« Er hob den Kopf und legte eine unglaubliche Arroganz in seine nächsten Worte – die umso komischer klangen, weil er in einem alten Schuppen wie ein Affe auf einer Boxentür hockte. »Ich bin Darian von Chiarron, Thronerbe von Parva. Und ich verlange, freigelassen zu werden, damit ich zu meinem Volk zurückkehren kann.«
Melanie hatte das Gefühl, sehr dringend kichern zu müssen. Sie biss sich hart auf die Lippe und schaute hastig zur Seite. Philipp
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