Der Schwur
umgestürzte Bäume, pflügte durch dorniges Gestrüpp und stakste umständlich durch ein Gewirr aus Schlingpflanzen. Immer wieder flohen kleine und größere Tiere vor seinen Hufen – und zu den größeren Tieren gehörten auch faustgroße Spinnen. Sonja zog die Beine hoch und zitterte vor Ekel. Erst als sie eine Lichtung erreichten, wo keine Spinnen zu sehen waren, atmete sie tief und erleichtert aus – und wäre vor Schreck fast von Nachtfrosts Rücken gefallen, als Elris Stimme schwach, aber klar, neben ihrem Ohr sagte: »Diese Spinnen kann man übrigens auch essen.«
»Guten Appetit! Mensch, hast du mich erschreckt! Aber ich bin froh, dass du wach bist! Geht es dir gut?«
»Könnte nicht besser sein«, sagte Elri. »Was ist passiert? Wo ist mein Sirinkim?«
»Das Biest ist abgehauen«, sagte Lorin. »Mitsamt unseren Waffen. Der Spürer hat uns am Fluss aufgelauert. Du wurdest von einem Pfeil getroffen, und Sonja und Nachtfrost haben uns gerettet.«
»Danke«, sagte Elri, legte ihre Arme um Sonja und drückte sie fest. »Das werden wir euch nicht vergessen!«
»War doch klar«, sagte Sonja rasch. »Hört mal – was ist, wenn der Spürer uns weiter verfolgt? Wir haben keine Waffen und nichts ...«
»Nein, er hat zu wenig Leute«, sagte Elri. »Es wäre Selbstmord für ihn, den Wolfswald zu betreten, und das weiß er. Er wird erst Verstärkung anfordern und bis dahin sind wir hoffentlich weit weg.«
»Und außerdem würden die Tesca ihn schon an der Furt angreifen«, sagte Lorin.
»Aber dann wären sie ja hinter uns?« Aufgeschreckt warf Sonja einen Blick über die Schulter, aber außer den Bäumen und Sträuchern sah sie nichts.
Lorin räusperte sich. »Eigentlich sind sie eher –«
In diesem Moment hörten sie das Heulen.
Es kam von allen Seiten und – für Sonjas Ohren – aus mindestens hundert Kehlen. Vor ihnen, hinter ihnen, rechts, links.
»– überall«, beendete Lorin seinen Satz.
Sie waren eingeschlossen von Wölfen.
W
olfsnacht
Corinna wäre begeistert gewesen; sie hatte etwas für unheimliche Viecher übrig. Schon bei den Erdgnomen hätte sie sicher versucht, einen zu fangen, statt davonzulaufen; die Wurzler hätte sie ausgegraben und dekorativ auf die Fensterbank gestellt, und an den Werwölfen von Parva hätte sie ihre reine Freude gehabt.
Sie waren vor allem groß. Bei aller Angst vor den Schreckgestalten ihrer Kindheit hatte Sonja doch immer gewusst, dass Wölfe weitgehend mit Schäferhunden verwandt waren und zwar bestimmt etwas größer, aber doch nicht sehr viel anders aussehen konnten. Später hatte sie ein paar Dokumentarfilme gesehen, in denen die Wölfe wirklich nur wie große graue Schäferhunde ausgesehen hatten. Aber inzwischen war ihr klar, dass sie sich weder auf Philipps »So etwas gibt es nicht« noch auf Dokumentarfilme verlassen konnte, wenn es um die Lebewesen dieser Welt ging.
Die Tesca waren fast so groß wie die Sirinkim und reichten Nachtfrost bis zum Bauch. Ihr Fell war struppig und tiefschwarz, und in der Dämmerung waren nur ihre leuchtenden gelben oder grünen Augen deutlich zu sehen. Ein scharfer, durchdringender Geruch ging von ihnen aus. Sie umkreisten Nachtfrost, der stehen geblieben war, und nachdem sie mit dem Heulen aufgehört hatten, war von ihnen kein Laut zu hören außer einem gelegentlichen Hecheln oder Schnüffeln.
Einer der Wölfe streifte ganz nahe an Nachtfrost vorbei,und Sonja zog die Beine hoch, die auf diese Monster vielleicht ähnlich verlockend wirkten wie Surferbeine auf hungrige Haie. Aber Elri gab ihr einen leichten Schubs und flüsterte: »Lass sie nicht sehen, dass du Angst hast! Zeig ihnen das Amulett!«
Mit zitternden Fingern nahm Sonja die Kette ab und hob das Amulett in die Höhe.
Einige der Wölfe blieben stehen und blickten aus schimmernden grünen Augen zu ihr hoch. Einer knurrte und bleckte die Zähne und Sonja ließ vor Schreck beinahe das Amulett fallen. Hastig griff sie danach und hielt es in der Hand. Das Knurren verstärkte sich.
»Sie verstehen nicht, warum du es anfassen kannst«, wisperte Lorin. »Sie wissen, dass du keine von uns bist ... sag etwas! Rede mit ihnen!«
»Verstehen die mich denn?«
»Natürlich«, zischte Elri. »Das sind keine Tiere!«
Sonja schluckte hart. Das war ja genau das, wovor sie solche Angst hatte, dass ihr fast übel wurde. Aber nun hatte sie keine Wahl mehr, sie konnte nicht mehr zurück.
»H-hallo«, krächzte sie.
Die Tesca schauten zu ihr hoch. Sonja hielt weiter mit
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