Der Schwur
herum. Das Einhorn stand dicht neben ihr, sein Atem fuhr warm über Elris Gesicht. »Das kann ich nicht! Ich kann das nicht anfassen!«
Zieh den Pfeil heraus, oder sie stirbt.
»Nein! Lorin muss das tun! Lorin, wach doch auf!«
Lorin rührte sich nicht, stöhnte nicht einmal. Ganz sacht klang wieder die Stimme des Einhorns in Sonjas Kopf.
Du musst es tun .
»Ich kann das nicht ...«
Nachtfrost stand still, wie aus Schatten und Licht geschnitten, und schaute sie nur an. Und Sonja wusste plötzlich eins ganz genau: Es musste getan werden, und außer ihr war niemand da, der es tun konnte. Schluchzend vor Grauen streckte sie die Hand aus und umfasste den schrecklichen Pfeil.
Langsam.
Sie zog. Langsam. Elris Körper bewegte sich und voller Entsetzen ließ Sonja den Pfeil wieder los. Aber dann schloss sie wieder die Hand darum. Elri durfte nicht sterben! Siezog, und es war das Schrecklichste, was sie in ihrem ganzen Leben je hatte tun müssen. Ganz langsam kam der Pfeil heraus, über und über blutverschmiert, und als er draußen war, schoss ein Blutstrom hinterher.
In diesem Moment senkte Nachtfrost den Kopf und berührte die Wunde mit seinem Horn.
Ein gleißendes Licht flammte auf und Sonja ließ den Pfeil fallen und kniff die Augen zu. Gleich darauf erlosch das Licht. Vorsichtig machte sie die Augen wieder auf, aber außer bunten Punkten, die vor ihr tanzten, konnte sie nichts sehen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen von dem Lichtblitz erholten, und dann dauerte es noch einmal eine Weile, bis sie es über sich brachte, Elri anzuschauen.
Da war keine Wunde mehr.
Das Hemd war noch blutdurchtränkt, aber die Haut darunter war glatt und unversehrt. Und als Nachtfrost nun auch Lorins Kopf mit dem Horn berührte, schloss sich auch diese Wunde. Lorin stöhnte, setzte sich auf und rieb sich den Schädel. »Au! Was –« Sein Blick fiel auf Elri, die mit dem Kopf auf seinen Beinen lag und wie tot aussah, und die Erinnerung kehrte jäh zurück. »Elri! Elri, nein!«
»Lorin!«, rief Sonja. »Sie ist nicht tot! Sie schläft nur – Nachtfrost hat sie geheilt!«
Lorin fuhr zusammen und beugte sich ungläubig über seine Schwester. Vorsichtig fühlte er ihren Puls. »Es stimmt«, flüsterte er. »Sie lebt! Aber – der Pfeil?«
»Ich hab ihn rausgezogen.« Sonja konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. »Und Nachtfrost hat sie geheilt. Und dich auch. Du hattest dir den Kopf angestoßen.«
Er starrte von ihr zu Nachtfrost, der den Blick aus sanften dunklen Augen erwiderte. Dann legte er Elris Kopf sachtins Gras, rappelte sich auf und tat etwas, was Sonja überhaupt nicht erwartet hatte: Er verbeugte sich tief vor ihr. »Wir verdanken dir unser Leben, Yeriye Sonja. Das werden wir nie vergessen!«
»Schon gut«, sagte sie hastig. »Ich hätte euch doch nie zurücklassen können!«
»Doch, hättest du«, sagte Lorin fest. »Und wir hätten es dir auch nicht übelgenommen. Aber ich bin froh, dass du es nicht getan hast.«
Dann humpelte er zu Nachtfrost hin. Sonja hörte nicht, was er zu ihm sagte, aber Nachtfrost wieherte leise und legte für einen Moment seinen Kopf auf die Schulter des Jungen. Lorin nickte, wischte sich kurz über die Augen und drehte sich um. »Wir müssen aufbrechen, Sonja. Die Tesca erwarten uns schon.«
Sie erschauerte. Aber irgendwie hatten die Tesca plötzlich ihren Schrecken ein wenig verloren. Viel schlimmer war der Spürer; ein Mensch, der auf Kinder und Einhörner schoss. Offenbar war er zu allem entschlossen, um das Amulett in die Hände zu bekommen, und die einzige Sicherheit für Sonja, Elri und Lorin lag bei den Werwölfen. Und jetzt konnte sie ihre beiden Freunde nicht mehr im Stich lassen. Nach dem, was sie gerade erlebt hatten, gehörten sie zusammen. Alle vier.
Mit Elri zwischen sich ritten sie weiter. Sie schlief noch, und Lorin erklärte Sonja, dass sie sich erst von dem Schock erholen musste und nach einiger Zeit wieder aufwachen würde. Er hielt seine Schwester fest umfasst, und einmal spürte Sonja, wie etwas leicht ihre Schulter berührte und sie sehr vorsichtig streichelte. Sie schaute sich nicht um, aber sie legte ganz kurz ihre Hand auf seine. Sie sagten beide lange Zeit nichts.
Der Wald war hier dichter und dunkler als der Kristallwald und wirkte viel älter. Die Bäume waren riesig und hingen voller Moos und efeuähnlichen Ranken. Der Pfad verlief sich bald im Nichts, und Nachtfrost suchte sich seinen Weg selbst. Er sprang über kleine Bäche und
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