Der Schwur
zitternden Fingern das Amulett hoch und krallte sich mit der anderen Hand krampfhaft in Nachtfrosts Mähne fest. Vielleicht tat sie ihm damit weh, aber er stand ganz still, mit stolz gewölbtem Kopf, und zuckte nicht einmal mit dem Schweif. Und sie wusste, dass er sie mit seinem Leben verteidigen würde, falls die Tesca sie angriffen.
»Ich h-heiße Sonja.« Es klang jämmerlich dünn und sie räusperte sich. Keine Angst zeigen! Das war leicht gesagt! »Ich – ich habe Velerias Amulett gefunden, und Ganna – eine alte Frau von den Elarim –«
Elri knuffte sie leicht in die Rippen. »Sie kennen Ganna! Sie ist Velerias Schwester!«
Sonja geriet völlig aus dem Konzept. »Was? Aber –« Einer der Wölfe knurrte, und sie verzichtete schleunigst darauf, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. »Also gut, Ganna sagte, jemand hätte Veleria das Amulett gestohlen, und weil niemand es anfassen kann, sollte ich es zurückbringen, aber das Haus war verlassen, und ich – wir, meine ich – sind dann hergekommen, und wenn Veleria bei euch ist, möchte ich es ihr gerne zurückgeben.«
Geschafft, und sie lebte noch.
Die Wölfe starrten sie weiter an, und dann wandten sie sich plötzlich ab. Einer nach dem anderen verschmolz lautlos mit der Dunkelheit und war weg, und dann stand auf dem Weg vor Nachtfrost plötzlich eine alte Frau, in schwarze Kleidung – oder Felle? – gehüllt, mit schimmernden grünen Augen. Sie streckte die Hand aus und sagte: »Ich bin Veleria. Gib mir das Amulett.« Ihre Stimme klang heiser und kratzig, als hätte sie sie lange nicht benutzt.
Nachtfrost trat zwei Schritte auf sie zu und Sonja beugte sich vor und legte das Amulett in die klauenartige Hand. Es leuchtete hell auf und erlosch wieder. Veleria blickte darauf nieder. Sie sah uralt aus, ihr Gesicht war von unzähligen Runzeln zerfurcht, und sie roch nach Wolf. Ihre Kleidung bestand tatsächlich aus Fell. Aber sie sah jetzt ganz menschlich aus; ihre Augen waren dunkel und traurig. Mit einer langsamen, resigniert wirkenden Bewegung hängte sie sich die Kette um. »Was ist aus dem Jungen geworden, dem ich es gab? Ich kann ihn nicht mehr sehen.«
Alle drei starrten sie verblüfft an. »Was für ein Junge?«, fragte Elri endlich. »Wir dachten, jemand hätte es dir gestohlen!«
»Nein«, antwortete die alte Frau. »Ich hatte den Jungen damit fortgeschickt. Aber das ist eine lange Geschichte, und ihr seid müde und hungrig. Folgt mir ins Dorf.«
Sie drehte sich um und ging voran. Nachtfrost setzte sich in Bewegung und trottete hinter ihr her.
Ein Dorf? Eigentlich hatte Sonja jetzt eher eine Höhle erwartet ... und eigentlich wollte sie auch gar nicht mitkommen. Aber Nachtfrost, Elri und Lorin schienen das alles ganz normal zu finden, und bisher hatten die Werw – die Tesca, verbesserte sie sich –, sich nicht feindselig verhalten. Also hatte Elri vielleicht unrecht und sie betrachteten Sonja gar nicht als Dämon ... Veleria konnte das Amulett ja auch anfassen und gehörte doch zu ihnen!
Trotzdem ... es war jetzt fast ganz dunkel. Und es war Vollmond; sie erinnerte sich noch sehr gut an den riesigen roten Mond über der Ebene in der vergangenen Nacht. »Und dann, wenn der Mond aufgeht ...«, hatte Corinna mit einer ganz tiefen, drohenden Stimme gesagt, und Sonja krallte die Finger in Nachtfrosts Mähne und wünschte sich tausend Kilometer weit weg. Auch wenn sie keine acht Jahre mehr alt war, hatten Corinnas gruselige »Gutenacht«-Geschichten doch nichts von ihrem Schrecken verloren.
Allerdings bestand die einzige Alternative darin, wegzulaufen und allein im Wald zu übernachten. Ohne Nachtfrost, ohne Elri und Lorin, ohne etwas zu essen, aber dafür belauert von Wölfen und faustgroßen Spinnen. Tolle Alternative, wirklich.
Also ergab sie sich in ihr Schicksal. Zumindest war sie so nicht allein.
Wenig später sahen sie in einiger Entfernung das Licht eines großen Feuers. Veleria glitt gewandt wie eine Wölfin zwischen den dunklen Stämmen hindurch, und Nachtfrost folgte ihr unbeirrt, bis sie an den Rand einer Lichtung kamen, in deren Mitte das Feuer brannte. Vier niedrige kuppelförmige Holzhütten gruppierten sich um das Feuer, und dahinter lag ein ebenso niedriges dunkles, lang gestrecktes Holzhaus.
Ein paar der großen schwarzen Wölfe strichen über die Lichtung oder lagen in einiger Entfernung vom Feuer wie riesige schwarze Hunde. Eine Gruppe von Menschen in Fellkitteln hockte am Feuer und briet etwas, das wie ein gehäutetes
Weitere Kostenlose Bücher