Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
selbst abzuholen. Seit seiner Pensionierung war Richard Serraillers Leben sorgfältig und klar strukturiert, und der Gang zur Post bei jedem Wetter war ein fester Bestandteil seines Tagesablaufs. Um neun Uhr, nach seinem Bad und dem Frühstück, ging er los. Er hatte bei zu vielen seiner Kollegen erlebt, dass sie sich nach der Pensionierung vage und richtungslos treiben ließen, ohne Sinn und Zweck, die einzige Bewegung auf dem Golfplatz vor und nach zu viel Gin zum Lunch.
Er trat ans Wohnzimmerfenster, das zum Garten hinaus geöffnet war. Ein Zweig der Kletterrose an der Seitenwand hatte sich unter dem eigenen Gewicht nach vorne gebogen, aus den Stützdrähten heraus, und blockierte den Pfad. Meriel dünnte aus und schnitt Verblühtes ab.
»Ich gehe die Zeitung holen. Versuch nicht, den Zweig allein zurückzubiegen.«
Sie winkte.
»Hast du mich gehört?«
»Deutlich, danke.«
»Ich geh später mit der Axt dran.«
»Gut.«
Er blickte auf ihren langen Rücken, als sie sich bückte, um Kreuzkraut auszureißen. Sie trug noch ihren Baumwollhausmantel über den üblichen grünen Gummistiefeln. Während ihrer Jahre im Krankenhaus und solange die Kinder klein waren, hatte sie sich nie sonderlich für den Garten interessiert – er war da als Hintergrund, ein Ort, wo die Kinder spielen und Meriel gelegentlich sitzen konnte. Jemand aus dem Dorf mähte das Gras und kümmerte sich um die Beete. Aber mit der Pensionierung war eine plötzliche Leidenschaft erwacht, erst zur Umgestaltung und Bepflanzung des Gartens, dann, um anscheinend fast jeden wachen Augenblick darin herumzuwerkeln, egal zu welcher Jahreszeit. Seit Marthas Tod war sie sogar noch öfter draußen.
Sie sprachen weder über Martha noch über Meriels Geständnis, das sie über den Tod ihrer Tochter abgelegt hatte. Es gab nichts zu sagen. Aber die Wahrheit, sobald sie ausgesprochen war, hatte einen Riss zwischen ihnen geöffnet, den sie beide nicht mehr schließen konnten.
Er beobachtete sie noch ein wenig bei der Arbeit, bevor er losging, seinen Wanderstock von der Insel Skye nahm, den er von seinem Vater geerbt und der sie beide seit mehr als fünfzig Jahren auf meilenweiten Fußmärschen begleitet hatte.
Es war bereits warm, der Himmel wolkenlos, und Richard beeilte sich nicht. Er dachte gerne nach. Am Abend zuvor hatte Cat angerufen und gesagt, sie wolle mit den Kindern zum Tee kommen. Es gebe Neuigkeiten. Seit über einer Woche hatten sie nichts mehr von Simon gehört. Meriel machte sich Sorgen. Richard nicht. Aber er wünschte, Simon würde zur Ruhe kommen, heiraten, eine Familie gründen, Karriere machen. Er überlegte ebenfalls, ob er noch mal versuchen sollte, ihn dazu zu bewegen, sich den Freimaurern anzuschließen. Im folgenden Jahr würde Richard zum Auserwählten Meister seiner Loge werden. Es würde ihm Befriedigung verschaffen, seinen Sohn an seiner Seite zu wissen. Er würde ihn später anrufen und zum Lunch einladen.
Wenn er geplant hatte, auf dem Heimweg weiter über diese Angelegenheit nachzudenken, so wurde seine Aufmerksamkeit durch das, was er in der Zeitung las, völlig in Anspruch genommen.
Die Entdeckung der Kinderskelette in Höhlen an der Küste von North Yorkshire hatte es auf alle Titelseiten geschafft. Richard stand im Dorfladen und überflog die Berichte, sah Simons Namen, erinnerte sich an das Verschwinden des Laffertoner Schuljungen David Angus, Sohn eines ehemaligen Krankenhauskollegen.
Was für eine Art Mensch tat so etwas? Noch ungewöhnlicher, was für eine Art Frau? Eine Psychopathin? Gewiss. Eine beschädigte Seele? Ein missbrauchtes Kind, das zu einem verdrehten Erwachsenen herangewachsen war?
Er kannte die geltende Ansicht, die Meinung, die von den Fachleuten geäußert werden würde. Aber für ihn gab es keine Entschuldigung, keine rationale Erklärung, keine Rechtfertigung. Das war eine Kindermörderin, fest mit dem Bösen verdrahtet, von Geburt an unerlösbar. Dass es solche Individuen gab, hatte er nie bezweifelt. Irgendwo würde irgendjemand eine Anklage gegen Eltern, Geschwister, Betreuer, Aufpasser, Lehrer, Gott weiß wen noch zusammenbasteln, die alle für den Rest ihres Lebens unter der Qual der Schuldgefühle und Selbstvorwürfe leiden würden. Aber warum sollten sie? Es war nicht ihre Schuld. Es war der Teufel, der auf Erden wandelte und sich an jene heranpirschte, die er verschlingen konnte. Richard Serrailler war kein gläubiger Mensch, doch er hatte eine von der Bibel durchtränkte Kindheit und
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