Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
gut, das zu wissen, gut, davon überzeugt zu sein. Kyra kam gerne herüber, war froh, aus ihrem eigenen Haus fortzukommen, von dem mangelnden Interesse und der fehlenden Aufmerksamkeit, dem endlosen Brüllen und Schikanieren und Fluchen. Kyra verdiente mehr, verdiente jemanden, der ihr zuhörte, mit ihr spielte, Spaß daran hatte, sich Dinge für sie auszudenken.
Warum war Kyra anders?
Ed konnte es sich nicht erklären.
Da waren sie. Sie waren erst weit zurückgeblieben, aber jetzt waren sie wieder da, aufblitzendes Weiß, blaues Blinken. Verdammt. Die Straße war gerade und schnell, doch der Regen war keine Hilfe. Es war gut, genau zu wissen, was vor einem lag, nicht blind irgendwohin zu fahren in der Verzweiflung, sie abzuschütteln, davonzukommen.
Bei Kyras letztem Besuch hatten sie Fotos angeschaut, und es gab ein halbes Dutzend von Scarborough. Sie hatten ihr gefallen. Die Esel. Die Burg. Dann Ed auf einem Esel. Ed mit Sandeimer und Schaufel. Eine Postkarte von der Bucht mit den bunten Lichterketten.
»Ich wünschte, ich könnte dahin. Werden wir eines Tages dahinfahren? Fährst du mit mir nach Scarborough, Ed?«
Warum nicht? Natalie hätte bestimmt nichts dagegen, für ein paar Tage ihre Ruhe zu haben. Da wären die Esel und das Eis in einem Glasbecher mit roter Soße in der Hafenbar und Hau-den-Lukas auf dem Jahrmarkt, die Stände mit Zuckerwatte, süß schmelzend im Mund; der Stand mit den Steinen; der Sand, weich wie Seide in großen Haufen an den Stützpfeilern des Piers, aber härter, flacher und dunkel wie Honig am Rand des Wassers. Minigolf. Das Labyrinth. Die sich weit hinunterschlängelnden Klippenpfade.
Die Klippen. Die Höhlen. Mulden im Gestein, die sich mit Wasser füllten. Kleine Krebse und Seesterne. Kyra würde das alles gefallen. Einem Kind diesen Zauber zu zeigen, einem Kind, mit dem man lachen konnte. Kyras Gesicht, neugierig, interessiert, hoffnungsvoll. Kyra würde nichts passieren. Kyra war in Sicherheit. Kyra würde nie gefesselt im Kofferraum liegen, mit geschlossenen Augen, ohne Atem.
Wassertümpel in den Gesteinsmulden. Ihre Spiegelung leuchtete jetzt durch die Windschutzscheibe und den Regen, das klare Wasser, in dessen Tiefe die kleinen Wesen Sand aufwühlten.
Tümpel.
Klippen.
Höhlen.
Klippe.
Höhle.
Tümpel.
Verstecke.
Neun
I ch habe geträumt, dein Vater sei wieder da. Er saß am Klavier und spielte Scott Joplin. Wie albern.«
»Na ja, er hat gern Scott Joplin gespielt.«
»Natürlich, aber warum sollte ich davon träumen, dass er das jetzt tut?«
Magda Fitzroy bewegte sich gereizt auf ihren Kissen. Sie sah bleich aus, ihre Augen waren eingesunken, die Blutergüsse und der Schnitt an ihrer Stirn hoben sich verschorft und dunkel ab wie getrocknetes Fleisch.
Im Krankenzimmer standen sechs Betten, und Magda hatte das neben dem Fenster, doch man sah von hier aus nur dünne Wolkenfetzen und die Seitenwand eines anderen Gebäudes.
»Es war bemerkenswert, weißt du, dass er alles ohne Noten spielte, nur nach dem Gehör.«
»Hast du in letzter Zeit viel an ihn gedacht?«
»Nein. Warum fragst du?«
Gespräche wie dieses, gewundene, streitsüchtige Gespräche, stellten Janes Geduld auf die Probe und erinnerten sie daran, warum sie aus London hatte fortziehen müssen, um andere Luft zu atmen, eher psychologisch als buchstäblich. Magda genoss Streitgespräche und Wortgefechte. Das hatte ihren geduldigen Ehemann verrückt gemacht. Jane rettete sich damit, diesen Gesprächsfaden einfach scharf abzuschneiden. Aber nachdem sie das getan hatte, musste sie einen anderen entrollen. »Nach dem, was passiert ist, kannst du nicht mehr allein in dem Hause leben. Vielleicht sollten wir darüber reden.«
Ihre Mutter wandte den Kopf ab. Auf der anderen Seite des Zimmers schnarchte eine alte Frau, lag gekrümmt auf der Seite, den Kopf im Nacken. Magda atmete gereizt ein. Jane wartete. Aber ihre Mutter war gut darin, ein Thema zu ignorieren, über das sie nicht reden wollte.
Ein Rollwagen wurde hereingeschoben, umweht vom Geruch der Teemaschine.
»Hier ist Ihr Tee, Violet, kommen Sie, setzen Sie sich auf.«
Jane ging zum Wagen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau hatte einen langen, grauen Pferdeschwanz und einen verkniffenen Mund.
»Meine Mutter nimmt weder Milch noch Zucker.«
»Was, nur schwarz? Das brächte ich nicht runter.«
»Ich auch nicht.« Jane lächelte. Es wurde nicht erwidert.
»Dann kommst du also mit zu mir?«, fragte sie und stellte Tasse und Untertasse
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