Der Seele weißes Blut
fallen. »Und ich möchte das Sorgerecht für Lukas und Maja.«
Lydia griff nach dem Umschlag. Philipp Dankert hatte sie nach dem dritten Mord nicht mehr ernsthaft als Täter in Betracht gezogen, schon gar nicht seit Maren Lahnsteins Anruf. Sollte sie sich so getäuscht haben? Fast wünschte sie es sich. Alles war besser als ein Kollege, der auf der falschen Seite stand. Selbst wenn es bedeutete, dass sie den Mörder nicht durch ihre Ermittlungsarbeit, sondern mit fremder Hilfe überführten. Vielleicht gab es ja doch noch eine andere Erklärung für diese verdammte Kapsel in Valentina Frederiksens Rachen.
Hannelore Dankert machte ihre Hoffnung so schnell zunichte, wie sie sie geweckt hatte. »Ich glaube nicht, dass mein Sohn etwas mit Ellens Tod zu tun hat. Dafür ist er viel zu feige.« Den zweiten Satz hatte sie geflüstert. »Sie werden es verstehen, wenn Sie den Umschlag öffnen.« Die Frau rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.
Lydia begriff, dass sie jetzt, nachdem sie die furchtbare Aufgabe, ihren eigenen Sohn zu denunzieren, hinter sich gebracht hatte, so schnell wie möglich hier wegwollte. Sie riss den Umschlag auf. Er enthielt Fotos. Auf dem ersten Bild war ein kleines Mädchen zu sehen, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Es stand nackt in einem orange-farbenen Planschbecken und lachte in die Kamera. Der Himmel über ihm war leuchtend blau, das Gras um das Becken glänzte saftig grün. Das musste Maja sein, Dankerts Tochter. Das zweite Bild zeigte wieder das Mädchen im Planschbecken, doch der Bildausschnitt war anders, das Gesicht war zur Hälfte weggeschnitten, dafür schien der Unterleib merkwürdig ins Zentrum gerückt. Auf dem dritten Bild saß Maja auf dem Rasen, die Beine gespreizt. Sie lachte nicht mehr, ihr Blick war ängstlich und verstört.
Lydia wusste, was das zu bedeuten hatte, noch bevor sie sich die anderen Bilder ansah. Sie zeigten nicht nur Maja, sondern weitere Mädchen, vielleicht ihre Freundinnen. Auf einigen Bildern erkannte Lydia den gläsernen Küchentisch der Dankerts. Der Gedanke, dass sie nichtsahnend an genau dem Tisch gesessen hatte, an dem Dankert – vermutlich wegen der reizvollen Perspektive - von unten durch die Glasplatte Fotos gemacht hatte, trieb ihr die Magensäure die Speiseröhre hinauf. Rasch legte sie die Bilder weg.
»Ich verstehe«, murmelte sie.
»Sie werden ihm die Kinder wegnehmen?« Der Unterkiefer der Frau zitterte leicht. Es musste sie ungeheure Kraft kosten, ruhig zu sprechen.
»Ich persönlich nicht. Aber ich werde dafür sorgen, dass meine Kollegen vom KK 12 sich um die Sache kümmern.«
»Ich weiß wirklich nicht, was wir falsch gemacht haben.« Hannelore Dankerts Lippen bebten. »Er war immer ein guter Junge, glauben Sie mir. Wir haben darauf geachtet, dass er weiß, was sich gehört.« Sie knetete ihre Hände. »Wir haben dafür gesorgt, dass er nicht in den falschen Kreisen verkehrt, dass er etwas Anständiges lernt. Ich verstehe es wirklich nicht.« Ihr Gesicht zuckte. »Ich verstehe es nicht«, wiederholte sie.
Lydia strich sich nervös eine Haarsträhne hinter das Ohr und griff zum Telefonhörer. »Ich lasse jemanden kommen, der sich um Sie kümmert.«
Nachdem ein Kollege vom KK 12 Hannelore Dankert abgeholt und die Fotos mitgenommen hatte, ließ Lydia den Kopf auf die Tischplatte sinken und schloss die Augen. Hinter ihrer Stirn hatte es angefangen, leise zu pochen. Sie fühlte sich, als wäre sie hundert Jahre alt. Was für ein grauenvoller Tag. Und er war noch lange nicht zu Ende.
44
Rita Schmitt schlug mit dem Finger auf die Taste. »Ja«, sagte sie zufrieden. »Das gefällt mir.«
»Was gibt es denn?«, fragte Halverstett durch den Qualm eines Ylang-Ylang-Räucherstäbchens, das wie billiges Parfüm stank. Er hatte sich ein Limit gesetzt, bis zu welchem Punkt er Ritas Ausflug in die Esoterik in ihrem gemeinsamen Büro dulden würde. Das war bereits weit überschritten, aber er verspürte nicht die Kraft, mit einer weiteren Frau einen Konflikt auszutragen. Zumal ihm ein schwerer Gang noch bevorstand: Er musste mit Frau Kästner reden. Er war davon überzeugt, dass er der alten Dame Antworten schuldete, auch wenn er ziemlich sicher war, dass sie sie nicht gern hören würde.
»Ich habe den Besitzer unseres kleinen Matchbox-Flitzers ausgemacht. Da staunst du, was?«
Halverstett beäugte erst Rita, dann die drei Gegenstände, die sie wie Totems auf ihrem Schreibtisch platziert hatte: die Murmel, das Taschenmesser und das
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