Der Seelenbrecher
entgegen, der Unbefugte am Eintritt in sein Reich der Kälte hindern will. Caspar duckte sich noch mehr und schlang die Arme um seinen Oberkörper. Der Wind wurde schwächer dank dem Erkervorsprung links neben ihm, der zwar vor den Schneeverwehungen schützte, nicht aber vor den sibirischen Temperaturen. Auch Linus hielt sich in dem Windschatten und presste sich erneut einen Finger vor die Lippen.
»Dunten«, flüsterte er und deutete auf das rote Schneemobil, das schräg vor der Eingangstür parkte. Der größte Teil des Fahrzeugs stand unter dem schützenden Baldachin des Empfangsbereichs. Nur die spitz zulaufende Vorderschnauze ragte in den verschneiten Weg hinaus. Sie war noch warm, so dass sich die Flocken sofort nach ihrem Aufprall darauf verflüssigten.
»Was meinst du?« Caspar beugte sich nach vorne, wodurch er aber noch weniger sah, weil er aus dem Windschatten geriet. Der Schnee wehte ihm direkt in die Augen. Caspar blinzelte, neigte den Kopf schräg und ärgerte sich über seine Unvernunft. Statt sich an Bachmann vorbei aus der Klinik zu schleichen, stand er nun mit einem psychotischen Patienten in der Dunkelheit auf einem vereisten Balkon.
Er wollte gerade den Rückzug antreten, als der Wind sich drehte. Und mit ihm verschob sich auch die Wahrnehmung Caspars. Auf einmal sah er ihn.
Den Fleck . Im Schnee. Er hatte seinen Ursprung direkt neben dem rechten Hinterreifen des Fahrzeugs, von wo aus er sich in Richtung Klinikeingang ausbreitete. In dem matten Licht, das aus der Pförtnerloge fiel, sah er aus wie eine goldgelbe Urinpfütze, doch Caspar wusste sofort, um was es sich tatsächlich handelte.
Benzin.
Entweder der Schlauch des Tanks hatte sich von alleine gelöst, oder jemand hatte nachgeholfen.
Aber wieso? Weshalb sollte jemand das einzige Transportmittel außer Kraft setzen, das in der Lage war, sich durch dieses Unwetter zu kämpfen?
Er wollte Linus gerade fragen, ob er wusste, wer sich an dem Fahrzeug zu schaffen gemacht hatte, als der Musiker ihn in den Schatten des Erkers zurückriss. Gerade noch rechtzeitig, bevor Bachmann zu ihnen nach oben schauen konnte, nachdem er so plötzlich hinter dem Schneemobil aufgetaucht war.
19.18 Uhr
Eigentlich war er nur in sein Zimmer zurückgekehrt, um abzuwarten, bis der Hausmeister endlich den Eingangsbereich verließ und mit seinem Rundgang begann. Doch heute schien nichts in gewohnten Bahnen zu verlaufen, und Caspar erkannte, dass seine Flucht, wenn es denn überhaupt eine war, immer schwieriger wurde. Er saß hier fest, abgeschnitten von sämtlichen Möglichkeiten der Telekommunikation, und jetzt hatte der Hausmeister aus irgendeinem Grund auch noch das Transportfahrzeug manipuliert, das er sich für seinen Abstieg durch das Unwetter hatte ausborgen wollen. Egal. Er würde es auch so nach unten schaffen, notfalls im Sitzen auf seiner Plastiktüte.
Unter keinen Umständen würde er noch eine weitere Nacht hier verbringen. Und das lag nicht nur an dem grauenhaften Gedanken, womöglich irgendwo seine hilfebedürftige Tochter im Stich gelassen zu haben. Er spürte darüber hinaus, dass mit den geheimnisvollen Neuankömmlingen noch etwas anderes in die Klinik gelangt war, dem er besser aus dem Weg ging. Eine Bedrohung, so unsichtbar wie ein Virus. Sie breitete sich aus, störte die eingespielte vorabendliche Routine des kleinen Krankenhauses und schien, wie er jetzt entdeckte, sogar den Weg in sein Einzelzimmer gefunden zu haben. Was geht hier vor?
Caspar verlangsamte seine Schritte, je näher er der Tür kam. Sie stand offen, und das Licht brannte, obwohl er es erst vor wenigen Minuten gelöscht hatte.
Was zum Teufel ist hier los?
Zwei aufgeregte Stimmen schwappten auf den Flur hinaus. Eine von beiden gehörte zu Sophia, die mit der Frage »Was fällt Ihnen ein?« Caspar aus der Seele sprach. Auch er konnte sich keinen Reim auf den Anblick machen, der sich ihm bot, als er die Tür seines Zimmers erreicht hatte. Warum stand dieser Kerl mit dreckigen Stiefeln auf seinem Schreibtisch und hielt eine Hand vor das Fenster?
»Ich glaub, eben hatte ich noch einen Pömpel«, lachte der junge Mann.
Caspar erkannte den Sanitäter an seiner Stimme wieder, die so gar nicht zu seinem Äußeren passen wollte. Irgendwie hatte er sich den Fahrer ganz anders vorgestellt. Grobschlächtiger, mit müden, tränensackschweren Augen, die von nächtelangen Notfalleinsätzen zeugen. Doch vor ihm stand der Prototyp eines verwöhnten Yuppies, den man eher in einem narzisstischen
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