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Der Seelenbrecher

Der Seelenbrecher

Titel: Der Seelenbrecher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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verrücken.
»Was ist da los?«, fragte er und überlegte gleichzeitig, wer oder was sich eine Etage unter ihm befand. »…öten …öten …« Linus wiederholte das Wort mehrfach, ließ dafür aber Caspars Arm los, als er sah, wie dieser sich aus seinen zerfurchten Laken wand, um endlich aufzustehen.
»Ommit.«
»Ja, ja, ich komm ja mit.«
Caspar suchte nach seinen Hausschuhen. Doch dann ging das Poltern unter ihm in ein dumpfes Schleifgeräusch über, so als wolle jemand einen nassen Teppich unter größten Mühen von einem Zimmer in ein anderes ziehen. Also beschloss er, keine Zeit mehr zu verlieren. Während Linus polternd die Treppe hinunterlief, bemühte sich Caspar, nicht allzu laut zu sein, falls es eine harmlose Erklärung für die nächtlichen Geräusche gab. Doch nach den Ereignissen der letzten Stunden wollte er selbst nicht daran glauben, zumal ihm auf dem ersten Treppenabsatz das Wort wieder durch den Kopf schoss, mit dem Linus ihn geweckt hatte.
Sophil.
Jetzt rannte auch er schneller. Sophia … Hilfe. Er bog um die Ecke in den dunklen Flur und wunderte sich, warum hier die Bewegungsmelder nicht funktionierten. Normalerweise ging die Deckenbeleuchtung automatisch an, wenn jemand den Gang betrat. Doch jetzt drang das einzige Licht aus einem der hinteren Zimmer hervor, vor dessen weit geöffneter Tür Linus mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen stand und heftig zitterte.
Und dann, in dem Augenblick, in dem er die schneidende Kälte spürte, die aus dem Zimmer in den Flur drang, konnte er auch den Rest des kryptischen Kauderwelschs übersetzen: ›Patiöten‹.
Patient. Töten.
Er sah in das Zimmer. Natürlich. Hier im dritten Stock befanden sich die »schweren« Fälle. Die intensivmedizinische Betreuung. Abschließbare Räume mit hydraulischen Betten und elektronischen Messgeräten neben dem Nachttisch.
Sophia. Hilfe. Patient. Töten.
Caspar erschauerte, als er den Infusionsständer sah, der wie ein stummer Diener mit herabhängenden Schläuchen neben dem verwaisten Krankenbett stand. Er nahm seinen dampfenden Atem wahr – dann verlangsamte sich alles. Jetzt fühlte er sich wie ein unbeteiligter Beobachter, der interessiert ein Fotoalbum betrachtet, bei dem man jedes Mal eine Seite umblättern muss, bevor das Auge ein neues, schreckliches Bild an das Gehirn weiterreichen kann:
Das geöffnete Fenster – Der Mann – Ein Bein auf der Heizung, das andere bereits draußen – Linus, der sich an Caspar vorbeidrängen will – Das zu einem schmerzhaften Grinsen verzerrte Gesicht des Mannes, der sich noch einmal umdreht – Auf seinen Halsverband zeigt – Den Kopf schüttelt – Und sich dann in die Tiefe fallen lässt.
    In dem Moment, als die schneeverwehte Dunkelheit den flüchtenden Patienten verschluckte, beschleunigte sich wieder alles, und die erste greifbare Erinnerung verfing sich in dem löchrigen Gedächtnisnetz seines Gehirns. Caspar kannte die Gestalt, die soeben aus dem Fenster gesprungen war. Ihr Gesicht war ihm so vertraut wie der Geruch verbrannten Papiers, der gerade wieder seine Nase füllte. Er hatte Jonathan Bruck schon oft gesehen. Das letzte Mal vor wenigen Minuten, kurz bevor Linus ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Sein Gesicht prangte auf der Oberseite des Fotos, das Nacht für Nacht in seinen Alpträumen auf dem Beifahrersitz verbrannte. »Was ist hier los?«, fragte er Linus, der sich über das Fensterbrett beugte. Caspar war sich nicht sicher, ob dessen Zittern eine Begleiterscheinung der Kälte oder Furcht war.
»Sophilpatiöten«, lautete die stereotype Antwort, doch Caspar konnte die Ärztin nirgends entdecken. Was war mit Sophia? Er verstand weder Linus noch sich selbst. Wieso kannte er den Mann? Weshalb war Bruck nur mit einem dünnen Krankenhausnachthemd in den Schneesturm geflüchtet? Und wieso rannte Linus jetzt schon wieder mit Todesangst in den Augen aus dem Zimmer hinaus?
Es dauerte geraume Zeit, bis er die Antwort hörte. Später konnte er nicht mehr sagen, ob der Hahn im Badezimmer schon die ganze Zeit über gerauscht hatte. Das dumpfe, unregelmäßige Wummern hinter der Tür jedenfalls hatte erst in dieser Sekunde eingesetzt.
     

00.34 Uhr
    Und dennoch war sie schön. Im ersten Moment hatte sich Caspar so gefühlt, als betrachte er eine seelenlose Statue, die von einem untalentierten, offenbar geisteskranken Künstler in dem kleinen Badezimmer in Szene gesetzt worden war.
Doch dann sah er es. Obwohl ihr Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt

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