Der Seelenbrecher
Rätsel.«
»Er ist Sophia vorhin aus der Hand gefallen, als ich sie in der Badewanne gefunden habe«, ergänzte Caspar. »O mein Gott!« Sybille versagte die Stimme. Vermutlich hatte sie die gleiche Sondersendung gesehen wie Caspar gestern Nachmittag in Gretas Zimmer. Sie wischte sich die Tränen ab, die ihre rotgeäderten Wangen herunterliefen, und kniete sich zu Caspars Erstaunen direkt vor den Rollstuhl.
»Das arme Kind«, schluchzte sie und nahm Sophias reglose Hand. »Ausgerechnet sie. Warum nur? Warum?« »Ja. Was will er von uns?«, fragte Yasmin.
»Von uns gar nichts.« Caspar zog mit seinen geflüsterten Worten schlagartig die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Er klopfte mit zwei Fingern auf die Zeitung, die immer noch aufgeschlagen vor ihnen auf dem Esstisch lag, und räusperte sich.
»Hier steht, die bisherigen Opfer reagieren nur noch auf extreme äußere Reize. Zeigen keinerlei Reaktionen. Sind völlig stumm. Bei Frau Dr. Dorn ist das anders. Sie hat vorhin gezittert. Wir haben sie sogar schreien gehört. Auf jeden Fall hat Raßfeld noch einen Pupillenreflex festgestellt, was nach dieser Meldung bei allen anderen Frauen stark eingeschränkt war.«
»Also ist es ja vielleicht gar nicht der Seelenbrecher, sondern alles nur ein Unfall?«, wollte Sybille wieder Hoffnung schöpfen.
»Nein, das bedeutet nur, dass der Seelenbrecher noch nicht fertig ist. Linus hat ihn gestört. Ich denke, er will uns aus dem Weg räumen, um endlich wieder mit Sophia alleine zu sein. Deshalb ist er zurückgekommen. Um das zu Ende zu führen, was er begonnen hat. Was immer es auch sein mag.«
Caspar wunderte sich, dass er überhaupt die Kraft hatte, mit ruhiger Stimme diesen schrecklichen Verdacht auszusprechen. Denn wenn er recht behielt und es ihnen heute Nacht nicht gelingen würde, Sophia vor dem Seelenbrecher zu beschützen, würde mit ihr viel mehr als nur der Code für das Gefängnis untergehen, in dem sie sich selbst eingesperrt hatten. Er würde niemals erfahren, was sie über seine Identität herausgefunden hatte. Und über seine Tochter.
Ich muss mich erst noch vergewissern.
Als ob Sophia seinen furchteinflößenden Gedanken Beifall spenden wollte, klapperten plötzlich die Metallteile ihres Rollstuhls unter ihrem heftig zuckenden Körper. Und dann mischte sich noch etwas viel Erschütternderes in den unheimlichen Applaus: Sie öffnete den Mund und begann zu sprechen.
01.22 Uhr
Nopor . Nur ein einziges Wort. So kurz wie unverständlich. Vielleicht hatte sie auch Schopor oder Ropor gesagt. Er hatte es nicht verstanden, und auch der Rest der unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaft sah ratlos in die Runde. Caspar kniete sich vor sie hin und berührte sanft Sophias Wange. Sie erwiderte die vorsichtige Kontaktaufnahme, indem sie ihr Kinn gegen seinen Handballen presste. Dann öffnete sie ihre ausgetrockneten Lippen, die über den Schneidezähnen etwas eingerissen waren. »Frau Dr. Dorn?«
Caspars Stimme schien zum ersten Mal zu ihr durchzudringen. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob das ein Anlass zur Freude war. Bei Komapatienten galt jede Reaktion als ein Meilenstein auf dem Weg zur Genesung. Was aber, wenn es nur ein kurzes Aufbäumen, ein letztes Aufflackern ihrer Lebensgeister war?
»Können Sie mich hören?«, fragte er leise.
Unter Sophias geschlossenen Lidern krochen die Augäpfel wie Käfer unter einem Spannbettlaken von einer Seite zur anderen.
Bachmann trat mit sorgenvoller Miene neben ihn. »Ihr ist kalt«, stellte Caspar fest.
Irgendjemand, vermutlich Yasmin, hatte Sophias Dienstkittel geholt und ihr über das dünne Nachthemd gezogen. Trotzdem zitterte sie. Der Hausmeister nickte stumm und trat wieder zur Seite.
»Hast du verstanden, was sie uns sagen wollte?«, fragte Schadeck unmittelbar neben seinem Ohr. Caspar hatte nicht bemerkt, dass der Sanitäter auf einmal neben ihm kniete.
»Nein, es war …« Er zuckte zusammen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
Sophia hatte ihm unvermittelt den Kopf zugewandt, wie ein Gast an der Bar, der die ganze Zeit nur in sein eigenes Glas gestarrt hat und sich plötzlich einen Ruck gibt, um ein Gespräch mit seinem Thekennachbarn anzufangen.
Was will sie mir sagen?
Caspar kniff die Brauen zusammen, während er Sophias Augen fixierte, die zum ersten Mal seit dem Zwischenfall in Brucks Zimmer einen Fokus besaßen: ihn. Nach der bisherigen Leere hatte ihr Blick nun eine Intensität, als wolle sie damit Nägel in die Wand treiben.
»Sophia?«, fragte Caspar
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