Der Seelenfänger (German Edition)
und seufzte. »Warum denken Leute, die Bekennerschreiben verfassen, nie daran, ihren Absender anzugeben?«
»Da kann ich Ihnen behilflich sein«, bot Morgaunt an. Dabei stieß er ein Lachen aus, das klang wie das Rollen von Stahlkugeln über einen Blechboden. Sascha stockte das Herz, denn er wusste genau, was Morgaunt gleich sagen würde.
»Das Hauptquartier der Magischen Werktätigen ist in der Hester Street Nummer achtzehn. Sie werden das ohne Mühe finden. Ihr neuer Lehrling kann Sie hinführen.«
8 Magische Werktätige der Welt, vereinigt euch!
Die Fahrt in die Hester Street kostete Sascha ein Jahr seines Lebens.
Es fing damit an, dass Lily ihn fragte, was J.P. Morgaunt denn mit seiner letzten Stichelei andeuten wollte, und Sascha erwiderte nur lahm, er habe keinen Schimmer. Dann gerieten sie in einen Stau, und als ob die Situation nicht schon schlimm genug gewesen wäre, schlug Wolf vor, bei dem Verkehr könne man die letzten Häuserblocks doch gleich zu Fuß zurücklegen.
Es war einer jener warmen, goldenen Herbstnachmittage, an denen ganz New York auf den Straßen spazieren ging und jeder arbeitslose jiddische Schauspieler und Revolutionär der Lower East Side auf der Terrasse des Café Metropol in der Sonne saß und es sich gut gehen ließen.
Sascha, immer in Wolfs schmalem Schatten, schlich sich am Metropol vorbei. Dennoch hörte er seinen Onkel Mordechai
beredt über den Unterschied zwischen plotskyitischem Anarcho-Wiccanismus und Jefferson’schem Wicco-Libertarismus dozieren. Sascha verkroch sich in seinem Mantel und betete, sein Onkel möge zu sehr mit der Planung der nächsten Revolution beschäftigt sein, um mitzubekommen, dass sich sein Lieblingsneffe direkt vor seiner Nase zum Handlanger der Börsenzauberer von der Wall Street machte.
Wolf ließ sich viel Zeit. Mit jedem Bettler, an dem er vorbeikam, musste er plaudern und ihm ein paar Münzen zustecken. Schließlich hatten sie die ganze Hester Street hinter sich gebracht, ohne dass Sascha gesehen worden wäre, und standen nun vor seinem Haus.
Die Mietskaserne gehörte noch zu den guten – auf jeden Fall war sie besser als die anderen Wohnungen, in denen Saschas Familie früher gehaust hatte. Die Wohnung der Kesslers lag im dritten Stock und hatte zwei Fenster zur Straßenseite sowie einen Balkon mit Feuerleiter, auf dem in schwülen Sommernächten für die ganze Familie Platz zum Schlafen war. Als Sascha aber jetzt an der Seite von Wolf und Lily vor seinem Zuhause stand, fiel ihm auf, wie heruntergekommen das Gebäude aussah.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, dass es im Treppenhaus kein Licht gab. In dem fensterlosen Aufgang war es so dunkel, dass ihn nicht einmal die eigene Mutter, wäre sie jetzt vorbeigekommen, erkannt hätte. Solange er den Mund hielt und kein Nachbar die Tür aufmachte, würde ihm nichts passieren. Wenn das Glück nur hielt, bis sie den dritten Stock hinter sich hatten!
Aber vorerst standen sie unten und Lily schaute sich im dunklen Hauseingang um. »Sieht jemand einen Lichtschalter?«
»Ich, äh, glaube nicht, dass es hier einen gibt …«
»Unsinn«, unterbrach ihn Lily, »ich weiß genau, dass unter dem Polizeipräsidenten Roosevelt eine Vorschrift erlassen wurde, wonach Vermieter schon vor zwei Jahren elektrisches Licht installieren mussten.«
»Tolle Ideen hatte der Mann!«, höhnte Sascha.
»Lach nicht«, versetzte Lily. »Manche von uns kümmern sich wirklich um die armen Leute!«
Bis sie nach fünf Treppen das oberste Stockwerk der Mietskaserne erreicht hatten, war Wolf gegen zwei Aschenkübel gestoßen und wäre um ein Haar in einen vollen Nachttopf getreten. Lily hatte ein »verirrtes« Kleinkind auf der Treppe gefunden und den Eltern zurückgebracht. Die reagierten aber auf diese »Rettung« mit einem Schwall von Worten, die sich nicht für die Ohren einer jungen Dame schickten, in der Kurzfassung hieß das, sie solle sich um ihren eigenen Dreck kümmern.
Nun standen sie also oben auf dem letzten Treppenabsatz. Jemand hatte die Tür zum Dachgeschoss einen Spalt weit offen gelassen, sodass ein dünner Strahl Tageslicht einfiel. Wolf nahm die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Sascha warf einen scheuen Blick auf Lily, er wollte wissen, wie sie die erste Berührung mit dem Milieu der armen Leute überstanden hatte.
Ihr weißes Kleid war vorn mit Ruß beschmutzt und sie rang immer noch nach Atem. Aber sonst wirkt sie ruhig, dachte er – bis sie den Mund
Weitere Kostenlose Bücher