Der Seelenfänger (German Edition)
aufmachte.
»Wie können Menschen nur so leben?«, empörte sie sich. »Wie Tiere! Und die armen Kinder! Die Missionare haben wohl recht, wenn sie sagen, solche Kinder wären in einem Waisenhaus besser aufgehoben!«
Sascha verbiss sich eine Bemerkung. Er war froh, dass sie wegen der Dunkelheit im Gang die Zornesröte in seinem Gesicht nicht sah. »Lassen wir das jetzt beiseite und sehen wir zu, dass wir hier schnell fertig werden. Wo stecken denn nur diese blöden Gewerkschafter?«
»Wenn du das nicht herausfindest«, lästerte Wolf, »solltest du dir Gedanken über einen Wechsel in eine andere Branche machen.«
Tatsächlich hing ein breites Banner über der letzten Tür links. Dieses Banner war wohl dafür gemacht, bei Demonstrationen auf den breiten Straßen New Yorks von einer Gruppe streikender Arbeiter vor ihnen hergetragen zu werden. Nun aber hing es in einem engen Flur, wo kaum zwei Leute aneinander vorbeikamen. In tiefroten Buchstaben und in Englisch und Jiddisch stand dort Onkel Mordechais Lieblingsslogan:
MAGISCHE WERKTÄTIGE ALLER LÄNDER , VEREINIGT EUCH !
Ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten!
Wenigstens, sagte sich Sascha, während er hinter Wolf und Lily entlangzockelte, konnte es kaum noch schlimmer kommen.
Doch im Leben kann es immer noch schlimmer kommen – so auch hier.
Der junge Mann, der auf Wolfs Klopfen die Tür öffnete, hatte rote Locken, die ihm vom Kopf abstanden, wie Spiralen, die aus einer kaputten Matratze ragten. Seine schmalen Handgelenke schauten aus viel zu kurzen Hemdsärmeln hervor, und sein Hals war so dünn, dass die Krawatte wie eine Henkersschlinge wirkte.
Doch das Schlimmste war sein Gesichtsausdruck. Aus ihm sprach Pflichteifer, Sanftmut und rührender Ernst. Man sah sofort, das war ein Typ, der immer das Nachsehen hatte – mit einem Wort der Inbegriff des
Schlimasl
oder
Schnuk
oder
Schmendrik
oder was es sonst noch im Jiddischen an mitleidvollen Ausdrücken für solch einen Pechvogel gab. In Saschas Familie hätte man mit Vergnügen über den treffendsten Ausdruck gestritten. Aber Sascha hatte jetzt nur eine Sorge: wie hier rauskommen, ehe das lächerliche
Bubele
oder einer seiner Wobbly-Kameraden ihn erkannte?
»Seid gegrüßt, Genossen!«, platzte der junge Mann heraus, noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte. »Es lebe die Revolution!«
»Äh …, ja«, sagte Wolf. »Wer ist denn hier zuständig?«
»Ich«, verkündete der junge Mann und streckte Wolf die Hand so weit entgegen, dass Sascha hätte schwören können, einen Ellbogen gesehen zu haben. »Moische Schlosky, stets zu Diensten!«
Sascha warf einen vorsichtigen Blick auf Moische und versuchte sich zu erinnern, ob er ihm schon einmal begegnet war. Sollte das der dünne Rotschopf sein, mit dem Saschas Vater Beka aufgezogen hatte? Nein, das war schlecht möglich, die bloße Idee, sich die schmucke, reizende, lebhafte Beka mit diesem Hungerleider zusammen vorzustellen, war lächerlich. Schließlich gab es Tausende dünne Rotschöpfe auf der Lower East Side, und sollte sich Beka wirklich einen davon ausgesucht haben, dann bestimmt nicht den da!
»Sind Sie nicht …, äh …, ein bisschen zu jung?«, fragte Wolf.
»Was heißt jung? Ich habe mit elf als Bügler bei Pentacle angefangen und die meisten Näherinnen dort waren sogar noch jünger als ich.« Moische nahm eine heldenhafte Pose ein – oder genauer gesagt, es wäre bei jedem anderen eine heldenhafte Pose gewesen – und schmetterte: »Die Jugend ist unsere Zukunft!«
»Dürfen wir reinkommen? Es könnte etwas länger dauern.«
»Sag mal«, rief plötzlich Moische, als Sascha hinter Wolf in die Wohnung trat, »bist du nicht Bekas kleiner Bru…«
»Nein!«
»Aber du …«
»Ich wohne außerhalb von Manhattan, bin noch nie hier gewesen! Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«
»Wie?«, sagte Moische und tat ganz überrascht. »Ja klar, keine Frage.«
Moische war ein denkbar schlechter Lügner. Das kam nicht überraschend für Sascha. Er hoffte nur, dass die Arbeiter bei Pentacle in der Streikfrage nicht auf Moisches Verhandlungskünste angewiesen waren. Mit solchen Verhandlungsführern müssten sie am Ende J.P. Morgaunt noch dafür bezahlen, dass er sie wieder arbeiten ließ.
Zum Glück waren Wolf und Lily viel zu sehr damit beschäftigt, sich das Chaos in der Wohnung anzuschauen, um Moisches schlechtes Schauspielern zu bemerken.
Was sich da vor ihren Augen abspielte, war das reinste Babel. Die Aktivisten – die
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