Der Seelenfänger (German Edition)
ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunter.
Morgaunt schloss den Schrank mit einem Schlüssel aus seiner Anzugjacke auf. Zum Vorschein kamen reihenweise Fächer, eng bestückt mit weißen und goldenen Zylindern. Zuerst glaubte Sascha, es seien Garnspulen. Aber dann erinnerte er sich, dass er solche Zylinder schon einmal gesehen hatte. Das waren Klangwalzen aus Musikautomaten.
»Das ist meine kleine Seelenbibliothek«, verkündete Morgaunt. »Das sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber ich darf behaupten, dass in diesem Schrank mehr Information steckt als in meiner ganzen übrigen Bibliothek. Stellen Sie sich vor, Wolf, Edison kann alles, was die Seele eines Menschen ausmacht, auf ein paar Unzen Wachs und Blattgold speichern und so leicht wieder abspielen, als wäre es der neueste Tanzschlager aus der Bowery.«
»Und inwiefern hilft das beim Aufspüren von Hexen?«, wollte Wolf wissen.
»Ganz einfach, wer den Klang der Seele eines Menschen hört, der erfährt alles, was er ist, einschließlich seiner magischen Kräfte. Vor allem die.« Morgaunts Augen funkelten wie frisch gewetzte Messerklingen. »Wie wäre es, Wolf? Wollen Sie sich nicht von der Maschine aufnehmen lassen? Es soll eine faszinierende Erfahrung sein. Sie könnten etwas Neues lernen, sich selbst überraschen.«
»Ich erlebe schon genug Überraschungen«, winkte Wolf ab. »Ich verzichte lieber.«
Plötzlich zog Morgaunt eine Walze aus den Fächern und warf sie Sascha zu. Der hätte sie beinahe fallen lassen. Sie war erstaunlich leicht, ein zartes Gebilde aus Wachs und Blattgold, das beim leichtesten Druck zu zerbrechen schien. Sascha drehte sie und sah, wie das Blattgold im Schein des Feuers funkelte. Er tastete über das Muster aus Rillen und Erhebungen, die wie die Wirbel eines Fingerabdrucks über die Walze liefen.
»Und wessen Seele ist das?«
»Ich könnte es dir verraten«, sagte Morgaunt mit einem spöttischen Grinsen, »aber dann müsste ich dich leider umbringen.«
»Dürfen wir es mal anhören?«, fragte Lily. »Ich möchte gern wissen, wie eine Seele klingt.«
»Eine ausgezeichnete Idee, Miss Astral.« Das Lächeln, das Morgaunt jetzt zeigte, war noch schrecklicher als sein übliches. Verschlagenheit war darin, und Verachtung – so als machte er sich offen über sie lustig und genieße dabei noch, dass sie zu ahnungslos waren, um es zu merken. »Miss da Serpa, wenn Sie so nett wären.«
Morgaunts Bibliothekarin kam mit wackelnden Hüften zu Sascha hinüber und nahm ihm die Walze aus der Hand. Sie starrte ihn so fest aus ihren dunklen Augen an, dass Sascha nicht zu atmen wagte, geschweige denn Widerstand leistete.
Als er sich wieder gefangen hatte, hatte Miss da Serpa die Walze bereits in einen Apparat gelegt, der einem tragbaren Edison-Phonographen täuschend ähnlich sah. Sie drehte ein paarmal an der Kurbel und trat dann einen Schritt zurück.
Was aus dem Apparat kam, war Musik. Freilich Musik, wie sie Sascha noch nie gehört hatte. Er fühlte sich nackt, schlimmer noch. Alle geheime Schmach, alle Angst, alles Verlangen, hier kam es plötzlich an den Tag. Die Musik drang in ihn ein wie das Skalpell eines Chirurgen und riss sein Innerstes heraus und zerrte es vor aller Augen ins helle Tageslicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Finger in die Ohren zu stecken.
Dann verklang die Musik. Sascha strich sich mit der Hand über die Stirn, ihm war der kalte Schweiß ausgebrochen. Was für eine schreckliche Erfindung! Das war unanständig, schamlos. Man stelle sich vor, die tiefsten Gefühle eines Menschen würden in aller Öffentlichkeit gespielt wie der Schlager einer Tanzkapelle. Nicht einmal Onkel Mordechai würde sich so entblößen. Und Sascha hatte keinen Zweifel, wie sein Vater darüber denken würde.
Er riskierte einen Blick auf die anderen, er wollte wissen, ob die fremde Musik sie ebenso erschüttert hatte. Doch Wolf und Morgaunt zeigten die gleiche kühle Miene wie immer. Lily wiederum schien es genossen zu haben. Sie war so entzückt, dass Sascha schon fürchtete, sie würde Miss da Serpa bitten, die Walze noch einmal vorzuspielen.
»So etwas habe ich noch nie gehört«, schwärmte sie. »Daneben hört sich die beste Oper abgedroschen, künstlich und … platt an. Diese Leidenschaft! Wirklich, es gibt kein anderes Wort dafür. Und doch so formvollendet. Als hätte dieser Mensch eine Aufgabe bekommen, die so wichtig ist, dass er keinen Augenblick damit verschwendet, darüber nachzudenken, was er will und wer er
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