Der Seelenfänger (German Edition)
Uferpromenade geradewegs zu den Varietétheatern und verschwand in einem der Etablissements mit dem Schild »Little Cairo, Stern des Orients, heiß und sündig«.
Der Kartenabreißer musste Edison gut kennen, denn er ließ ihn ohne zu zahlen ein. Bei Wolf war das anders.
»Die Ausrede höre ich nicht zum ersten Mal«, erwiderte er gelangweilt, als Wolf ihm erklärte, sie kämen wegen einer polizeilichen Ermittlung.
Wolf bedachte ihn mit einem langen Blick und zeigte ihm dann seinen Dienstausweis.
»Glauben Sie etwa, dass ich mich davon beeindrucken lasse? Wir zahlen unser Schutzgeld immer pünktlich, da brauchen wir einem wie Ihnen keine Freikarten geben.«
»Wenn ich mir die Show anschauen wollte«, versetzte Wolf mit wachsender Verdrossenheit, »würde ich doch nicht zwei Minderjährige mitbringen, oder?«
Der Blick des Kartenabreißers wanderte von Wolfs Dienstausweis zu Saschas speckiger Mütze und von dort zu Lilys weißem Kleid und ihren blank geputzten Lederschuhen. »Die Entschuldigung kenne ich auch schon.« Er hielt Wolf die geöffnete Hand hin. »Erst die Piepen, dann kieken.«
Wolf gab sich geschlagen, reichte ihm das Eintrittsgeld, und die drei traten durch den Vorhang in ein mit rotem Samt ausgeschlagenes Theater.
Die Vorstellung war in vollem Gang, und was sie bot, war schon erstaunlich. Little Cairo hatte tatsächlich die rabenschwarze Lockenpracht und die exotische Gewandung einer orientalischen Schönheit und brachte ihren Bauchnabel zum Kreisen. Und doch hatte kein Zuschauer aus dem durchweg männlichen Publikum Augen für die Tanzdarbietung. Little Cairo brauchte um ihre Tugend nicht zu fürchten, denn auf einem Regiestuhl am Rand der Bühne saß ein wahrhaft kolossales Weib. Dieses Weib hatte die Statur eines Schwergewichtsboxers, mehr noch, sie trug einen Hut, der durch eine bemerkenswert lange Nadel mit ihrer Frisur verbunden war. Die kalte Miene, mit der sie um sich schaute, machte klar, dass sie nicht eine Sekunde zögern würde, diese Hutnadel auch als Stichwaffe zu benutzen. Die unheimliche Ähnlichkeit mit Little Cairo ließ keinen anderen Schluss zu, als dass es sich um die Mutter der Tänzerin handelte.
Kaum war der Tanz zu Ende, da verzog sich Little Cairo von der Bühne, Blumenbuketts, Schleier und eine Federboa in Händen. Die Mutter erhob sich majestätisch, warf einen letzten zornigen Blick ins Publikum und folgte ihrer Tochter in die Kulissen.
Wolf bahnte sich den Weg durch die Zuschauer und überließ es seinen beiden Lehrlingen, sich in seinem Kielwasser zu halten. Schließlich standen alle drei vor Little Cairos Künstlergarderobe. Vor der Tür hatte sich ihre monumentale Mutter aufgebaut.
»Kommen Sie mir nicht frech, junger Mann!« Little Cairo die Ältere streckte ihre gut gepolsterte Brust vor und drohte Wolf mit erhobener Faust. Unter makellosen Spitzenhandschuhen verbarg sie Pranken wie ein Preisboxer, und die Schläge, die sie damit austeilte, mussten sehr schmerzhaft sein. »Ich habe heute schon einen Besucher abserviert und ich kann das Gleiche auch mit Ihnen machen.«
»Ich versichere Ihnen, Madame …«
»Nennen Sie mich nicht Madame! Für was für ein Mädchen halten Sie eigentlich meine Tochter?«
»… ich bin rein dienstlich hier. Eine polizeiliche Ermittlung.«
»Ha, meinen Sie etwa, Sie sind der Erste, der so was behauptet?«
»Ehrlich«, flüsterte Lily Sascha ins Ohr, »der gleiche Verdacht, erst beim Kartenabreißer, jetzt bei der Mutter – da fragt man sich doch, was die Polizei in Coney Island den ganzen Tag über macht!«
Sascha lachte kurz auf, was ihm einen giftigen Blick der Mutter einbrachte.
»Zeigen Sie mir Ihre Dienstnummer!«, verlangte die Frau.
Wolf zuckte die Schultern und holte seinen Dienstausweis aus der Tasche.
»Sie werden von mir hören!«, drohte sie. »Ich kann Ihnen versichern, Inquisitor Wo…, oh!« Es verschlug ihr die Sprache, als sie Wolfs Namen auf dem Ausweis las. Als sie sich wieder gefangen hatte, sprach sie mit einer affektierten, fast mädchenhaften Stimme. »Inquisitor Wolf? Doch nicht
der
Inquisitor Wolf?«
Wolf verbeugte sich. »Zu Ihren Diensten, Mrs …«
»Darling, Mrs Darling, verwitwet.« Wieder kicherte sie geradezu mädchenhaft und reichte ihm die Hand, die sie eben noch drohend gegen ihn erhoben hatte.
Wolf zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann gab er ihr einen Handkuss.
»Oh, Mr Wolf, meine Tochter wird sich sicherlich geehrt fühlen, dass Sie ihre Tanzkunst zu schätzen
Weitere Kostenlose Bücher