Der Seelenfänger (German Edition)
nicht aus Zaubersprüchen und Hokuspokus besteht«, erwiderte Rabbi Kessler. »Vielmehr geht es um die sinnreiche Kombination der Buchstaben der Namen Gottes. Wer aber den Namen Gottes für einen Zauberspruch missbraucht, der macht IHN zu einem bloßen Mittel zum Zweck. Ist das eine würdige Beschäftigung für einen frommen Juden?«
»Das heißt, je mehr man von Magie versteht, desto weniger darf man sie anwenden?«, resümierte Sascha enttäuscht. »Wozu dann das Ganze?«
Rabbi Kessler rieb sich am Kopf, bis sein dünnes Haar elektrisch aufgeladen abstand. »Mo, hilf mir mal!«
»Sieh es einmal so«, begann Mo in dem ihm eigenen ruhigen Tonfall. »Nehmen wir an, du hast zwei Freunde. Der eine besucht dich jede Woche, einfach so. Ihr trinkt zusammen, spielt Karten, geht in eine Matinee, oder was auch immer, Hauptsache, ihr verbringt eure Zeit zusammen. Der andere Freund taucht nur auf, wenn er Geld braucht. Da weißt du schnell, was du von den beiden zu halten hast; der erste ist ein echter Freund, und der andere ist nur ein Schnorrer. Und deshalb treiben Kabbalisten keine Magie. Wir sind Gottes echte Freunde.«
Bei der Vorstellung, dass Gott mit Mo Lehrer Karten spielen könnte – zwei Juden mittleren Alters, beide mit Bauchansatz, saßen mit heraushängendem Unterhemd und baumelnden Hosenträgern am Küchentisch –, konnte Sascha nur verwundert den Kopf schütteln.
»Kann denn Gott nicht unterscheiden zwischen dem Mann, der IHN nur benutzen will, und, sagen wir, einem gläubigen Juden, der aus einem wirklich guten Grund SEINE Gunst braucht?«
»Du hast leicht reden«, sagte Großvater Kessler. »Aber wer entscheidet, was ein guter Grund ist? Und woher weißt du, mit wem es Gott ebenfalls halten muss, um dein Gebet zu erhören? Wunder bewirken ist wie Hosen länger machen: Man kann das Gewebe des Universums dehnen, aber irgendwann geht der Stoff aus. Dann muss man sich entscheiden, ob man lieber an den Knöcheln oder am Toches frieren will.«
Mo räusperte sich und machte eine Kopfbewegung hinüber zu den übrigen Talmudstudenten auf der anderen Seite des Raums, die neugierig zu ihnen hersahen.
»Also«, rief Großvater Kessler mit so lauter Stimme, dass auch die wenigen Studenten, die nicht gelauscht hatten, schuldbewusst hochschreckten. »Ich nehme an, dass ihr nun alle Meister der Kabbala seid. Ihr habt alle Welten ins Lot gebracht und die gegnerische Seite besiegt. Mithin darf der Messias jeden Augenblick kommen. Oder?« Er blickte sie streng an – oder zumindest auf eine Weise, die er für streng hielt. »Nein? Na, dann klemmt euch wieder hinter die Bücher und glotzt uns nicht wie die Karpfen mit offenem Mund an!«
»Ich verstehe es immer noch nicht«, meldete sich Sascha wieder, nachdem sich die Talmudstudenten aufs Neue ihren Büchern zugewandt hatten. »Kabbalisten dürfen nicht zaubern, weil dies mit Gottes Plan für das Universum nicht vereinbar wäre …«
»Ach ja, Gott hat jetzt einen ›Plan‹? Was ist er deiner Meinung nach, ein Maurerpolier?«
»Wie kann das Böse jemals besiegt werden, wenn die Bösen dauernd Magie verwenden und die Guten nicht einmal das Recht haben, sich mit Magie gegen die Bösen zu wehren?«
Als Antwort zuckte Rabbi Kessler nur die Schultern. »Was soll ich dir sagen? Wir leben im
Goless
, im Exil. Das Leben muss daher schlecht sein. Wenn du das ändern willst, dann geh ins Café Metropol und schwing politische Reden wie dein nichtsnutziger Onkel Mordechai!«
Es klang zwar verrückt, dachte Sascha, aber weiter zu argumentieren hatte keinen Zweck. »Und was geschieht nun mit Edison?«
»Der ist erledigt«, kündigte Großvater Kessler frohgemut an. »Und, offen gesagt, einen Besseren hätte es gar nicht treffen können.«
Mo erläuterte das Ganze. »Jedes Mal, wenn Edison etwas Sündiges denkt oder etwas Unmoralisches tut, wird er schwächer und sein Dibbuk stärker. Bald wird der Dibbuk einen richtigen Körper haben wie du und ich. Dann wird er allmählich in Edisons Leben eindringen. Wenn Edison dann eines Abends nach Hause kommt, sitzt da der Dibbuk mit der Familie beim Abendbrot. Die Familienangehörigen und die Freunde werden ihn mit dem Dibbuk verwechseln. Sie werden denken, dass er der falsche und der Dibbuk der richtige Edison ist. Mit der Zeit wird Edison immer hohler und gebrechlicher. Jeden Tag saugt ihm der Dibbuk das Leben aus dem Leib, wie du ein Glas Limonade mit einem Strohhalm austrinkst. Am Ende ist er nur noch eine
Kelippah
, eine leere
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