Der Seelenfänger (German Edition)
Hülle ohne Seele.«
Jetzt musste Sascha auf den Punkt hinaus, der ihm schon die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte. »Aber wie kann der Dibbuk alle glauben machen, er sei Edison, wenn er gar nicht wie Edison aussieht?«
Mo und Großvater Kessler waren plötzlich sehr still. Und beide sahen ihn so eindringlich an, wie sie es noch nie getan hatten. Sascha fiel ein, was sein Vater einmal gesagt hatte, kein gewöhnlicher Wald-und-Wiesen-Zauberer würde sich jemals mit einem Kessler einlassen. Jetzt wusste er warum.
Er räusperte sich und bemühte sich um eine möglichst ruhige Stimme. »Ihr redet von Edisons Dibbuk, als wäre es sein Zwillingsbruder oder sein Doppelgänger. Aber so ist es nicht. Er ähnelt ihm überhaupt nicht.«
»Dann ist es auch nicht sein Dibbuk«, sagte Rabbi Kessler entschieden.
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Was meinst du damit, ob ich mir sicher sei? Der Dibbuk ist ein Teil von dir selbst – deine Angst, dein Zorn, deine Schwäche. Ein Dibbuk ist die dunkle Seite deiner Seele, die aus deinem Körper gerissen wurde und sich nun gegen dich wendet. Wie sollte deine eigene Seele dir nicht ähnlich sein?«
Sascha fuhr der Schrecken in die Eingeweide. »Aber wessen Dibbuk ist es dann?«
»Woher soll ich das wissen? Du hast ihn doch gesehen! Wem sieht er ähnlich?«
»Schwer zu sagen«, sagte Sascha. »Es sieht so verwaschen aus, wie ein altes …«
Er wollte schon »wie ein altes Foto« sagen. Aber dann besann er sich, als ihm klar wurde, an wessen Foto ihn der Dibbuk erinnerte. Nämlich an das Foto des jungen, bartlosen Rabbi Kessler, das in ihrer Küche hing.
»Was hast du denn auf einmal,
Bubele
?«
Doch Sascha antwortete nicht. Er starrte nur in das vertraute Gesicht seines Großvaters und sah dessen Züge in einem ganz neuen Licht – dem diesigen Schein einer Gaslaterne. Und ihm wurde plötzlich klar, dass die Frage, wem der Dibbuk ähnlich sah, das Letzte war, was er mit seinem Großvater diskutieren wollte.
16 Ein alter Ziegenbock namens Kessler
Zu Saschas Erleichterung begann Wolf seine Suche nach einem Kabbalisten nicht in der Hester Street, sondern auf der Upper East Side – eine Gegend, wo sie gewiss niemandem begegnen würden, dem der Name Rabbi Kessler ein Begriff war.
Zuerst besuchten sie einen Jung’schen Kabbalisten – einen Kerl mit wirrem Blick unter struppigen Augenbrauen, der die These vertrat, der Dibbuk sei eine Verkörperung von Edisons »Schatten«. Für Edison gebe es nur eine Rettung, nämlich in das kollektive Unbewusste einzugehen und mit seiner Anima zu verschmelzen. Als Nächstes hatten sie einen Termin bei einem Freud’schen Kabbalisten. Als der seine Vorstellungen von Dibbuks vortrug, bekam Sascha rote Ohren. Hierauf gingen sie zu einem analytischen Kabbalisten. Dieser traktierte sie mit seitenlangen alchimistischen Berechnungen. Sascha brauchte nicht lange nachzudenken, was Rabbi Kessler von alchimistischen Berechnungen hielt, denn er hatte dessen Urteil zu diesem Thema schon oft gehört: »Gott schuf die Welt in schlichtem Hebräisch, und jeder Narr, der meint, er könne Gottes Mathematik überprüfen, verdient, was dabei herauskommt.«
Auf dem Weg zur letzten Adresse auf Wolfs Liste taten Sascha die Füße weh und ihm brummte der Kopf.
»Donnerwetter!«, rief Lily, als sie das Haus betraten. »Das sieht ja aus wie eine Kathedrale!«
Und damit hatte sie recht. Hätte Sascha nicht genau hingesehen und die Davidsterne in den gotischen Giebeln ausgemacht, hätte er nie geglaubt, eine Synagoge vor sich zu haben.
Das Dienstgebäude des Rabbiners sah aus, wie sich ein spleeniger New Yorker Architekt ein englisches Landhaus vorstellen mochte. Draußen standen ein paar Kirschbäume, die sich leise im Herbstwind wiegten. Schnee lag in der Luft. Drinnen prasselte ein munteres Feuer im Kamin. Die Sessel waren aus nussbraunem Leder. An den Wänden hingen Bilder von Jagdhunden und Rennpferden. Auch die Auswahl der Bücher in den Eichenregalen ging eher Richtung Dickens und seinen gesammelten Werken als zu Talmud und Kabbala.
Rabbi Mendelsohn passte vollkommen ins Bild. Er war groß, hatte blaue Augen und besaß das Aussehen eines Universitätsdozenten. Schon auf den ersten Blick erkannte man, dass seine Familie nicht im Zwischendeck eines Auswandererschiffs aus Russland gekommen war.
Mendelsohn machte es sich in seinem Sessel bequem, die Beine, übrigens in tadellosen Anzughosen, übereinandergeschlagen. In einer Hand hielt er den Brief, den
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