Der Seelenfänger (German Edition)
sich völlig zerschlagen. Zu seiner Erleichterung sah hier alles wie gewohnt aus. Die Straße lag zu dieser vorgerückten Stunde still da, nur hier und da zeigte sich in Hauseingängen und auf Feuertreppen noch Leben, gerade so viel, um Sascha ein Gefühl der Sicherheit zu geben.
Irgendwo in der City schlug es drei viertel eins. Sascha verlangsamte seine Schritte und gönnte sich ein wenig Zeit zum Verschnaufen, ehe er ins Haus ging.
Und jetzt spürte er es wieder. Das gleiche benommen machende Gefühl, das ihn beim ersten Besuch in J.P.Morgaunts Bibliothek unter den toten Blicken der ausgestopften Tierköpfe befallen hatte, als sich die geballte Magie ganz New Yorks in der golden funkelnden Flüssigkeit in Morgaunts Whiskyglas zu sammeln schien. Nur fehlte der Magie jetzt der Mittelpunkt, jetzt trieb sie ziellos hierhin und dorthin wie trockenes Laub vor einem Sturm.
Eben noch hatte die Straße so wie immer ausgesehen. Doch nun kamen ihm die auf den Hausstufen lungernden Männer und die wenigen Frauen, die noch auf den Feuertreppen schwatzten, wie Menschen aus einer anderen Welt vor, zu denen er wie vom Grund des Meeres aufschaute. In der kalten Unterwasserwelt aber, die ihn nicht losließ, hielt sich noch ein anderes Wesen auf, eines, das ihm unheimlich und doch beängstigend ähnlich war.
Er drehte sich nach dem Schatten um, den er schon lange hinter sich wusste.
Die Gestalt blieb stehen, als er stehen blieb, und nun starrten sich die beiden über das schmutzige Straßenpflaster hinweg an.
»Wer bist du?«, rief Sascha. »Was willst du von mir?«
Eine leichte Windböe wehte durch die Straße, hob für einen Augenblick die Wäsche auf den Leinen und ließ sie gleich wieder los. Sascha meinte zu sehen, dass die Brise auch in Haare und Kleidung seines Beschatters fuhr, doch die Gestalt selbst rührte sich nicht. Sie hätte aus Stein gemeißelt sein können.
»Kannst du nicht reden?«, höhnte Sascha. Einen Moment lang schien der Verfolger zu zögern. Dann trat auch er einen Schritt vor. Nur einen Schritt, aber das genügte, damit der schwache Schein der Straßenlaterne auf sein Gesicht fiel.
Seine Augen waren schwarze Höhlen – dunkle Abgründe in einem von Schatten umhüllten Gesicht. Aber selbst in dem flackernden Gaslicht der Laterne erkannte Sascha, dass der Dibbuk nicht mehr die konturlose Schattengestalt aus den ersten Nächten war. Jetzt sah er sein Gesicht recht deutlich. Seit Wochen schon suchte er in seinem Gedächtnis nach einem Namen, der zu diesem Gesicht passte. Warum kam es ihm so unheimlich bekannt vor? Er hatte es schon mit allen Gesichtern aus seiner Familie und aus seiner Nachbarschaft verglichen, nur an eines, das er besser als alle anderen kannte, hatte er noch nicht gedacht …
Sascha löste sich aus seiner Erstarrung und rannte los, mit weiten Sätzen sprang er über das nasse Pflaster. Doch sein Verfolger war blitzschnell – oder genauer gesagt, und das grauste Sascha besonders – er war genauso schnell wie er.
Sascha geriet ins Straucheln und wäre beinahe gefallen. Er fing sich rasch wieder, aber nicht rasch genug. Nun war der Dibbuk so dicht hinter ihm, dass er dessen Atem hören konnte.
Als Sascha schon fürchtete, sein Verfolger würde sich nun auf ihn stürzen, spürte er eine Erschütterung durch die Mauern der Stadt gehen, als wäre New York ein Teich, in den eine unsichtbare Hand einen Stein geworfen hätte. Gleich darauf vernahm Sascha die schönsten Töne, die er je in seinem Leben gehört hatte: das silberne Klingeln von Streganonnaglöckchen am Zaumzeug eines Zugpferdes.
Irgendwie hatte er gewusst, dass kein gewöhnlicher Gemüsehändler, sondern wieder der Lumpensammler um die Ecke biegen würde. Sascha sprang auf den wackeligen Karren und sah sich ängstlich um, während der Lumpensammler die Zügel klatschen ließ und sein alter Klepper sich in Bewegung setzte.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte er.
Der Lumpensammler nickte nur mit seinem grauen Kopf und blieb stumm wie eh und je.
Sascha sah ihn von der Seite an. Wer oder was war eigentlich der Lumpensammler? Warum gab es in Wolfs Büro eine Akte über ihn? Was würde er über ihn erfahren, falls er den Mut hätte, einen indiskreten Blick hineinzuwerfen?
»Warum halten Sie denn an?«
Statt einer Antwort lüftete der Lumpensammler nur seinen schäbigen Hut – und da sah Sascha, dass er zu Hause war. Er kletterte vom Karren und nahm die Stufen der Vordertreppe auf einmal, um nur ja vor seinem Verfolger ins
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