Der Seelenfänger (German Edition)
Menschheitsgeschichte oder, wie Großvater Kessler vermutete, er war aus einer Monstrositätenschau entwichen, wo er als Mann mit Mund, aber ohne Bauch ausgestellt war.
Der letzte, aber nicht minder verstörende Vorfall war die Sache mit Saschas verschwundenen Strümpfen.
Mrs Kessler hatte schon eine Weile an einem Paar Strümpfe für Sascha gestrickt, und als sie mit der letzten Masche fertig war, steckte sie das neue Paar in die Wäsche, damit Sascha sie gleich am nächsten Morgen zur Arbeit anziehen konnte. Selbstverständlich wusch sie seine alten Strümpfe gleich mit; Mrs Kessler war keine Frau, die warmes Wasser verschwendete. Nach dem Waschen hängte sie beide Paare zum Trocknen auf die Feuertreppe.
Am anderen Morgen hingen die neuen Strümpfe noch auf der Leine, aber die alten waren weg.
»Was für ein
meschugger
Dieb klaut ein altes Paar Strümpfe, wenn ein neues Paar gleich daneben hängt?«, fragte sie verblüfft.
»Vielleicht war es eine Taube«, äußerte Onkel Mordechai. »Das Nest mit den Früchten der Arbeit anderer polstern, wie es die Börsenzauberer und die Räuberbarone tun!«
»Du meinst wohl Elstern«, verbesserte ihn Saschas Vater, ohne hinter dem Wirtschaftsteil seiner Zeitung hervorzuschauen. »Aber Vögel tragen keine Strümpfe, ihre Füße eignen sich nicht dazu.«
»Ha!«, meldete sich Großvater Kessler. »Da irrt ihr euch alle beide! Gewiss, Tauben mit Strümpfen hat die Welt noch nicht gesehen. Aber mit ihren Füßen hat das nichts zu tun. Ich weiß das aus gesicherter Quelle, denn Dämonen haben Vogelfüße – und in den rabbinischen Schriften finden sich mehrere Fälle von Dämonen, die Strümpfe und Schuhe tragen!«
Sascha hob die Augenbrauen. »Und was ist mit Dibbuks?«
Bei der Frage musste Großvater Kessler passen, hatte sich in den zahlreichen Bänden der
Haggada
doch kein Rabbiner jemals darüber ausgelassen, wie die Füße eines Dibbuks aussahen. »Nicht einmal die
Chassidim
«, musste Großvater Kessler zugeben. »Und die haben doch über alles nachgedacht. Obwohl, wenn ich mich recht entsinne, da gab es den Fall des wundertätigen
Rebben
von Putz. Dessen Ehefrau merkte, dass ihr Mann besessen war, weil sie ständig seine Strümpfe ausbessern musste. Die Krallen an seinen Füßen rissen nämlich Löcher …«
»Das erklärt alles!«, sagte Saschas Mutter und knuffte ihren Mann in die Seite.
»Was soll ich tun, auf dem Kopf gehen?«, fragte sein Vater gutmütig. »Ich sag’s dir, wenn Sascha erst einmal reich ist, höre ich mit dem Malochen auf. Ich miete mir eine
Klezmer
kapelle, die sollen Hochzeitsmärsche spielen, und ich lasse mich den ganzen Tag in einer Sänfte herumtragen. Dann musst du dir etwas anderes zum Meckern suchen.«
»Im Ernst?« Mrs Kessler sah ihrem Mann in die Augen. »Eine Klezmerkapelle, etwas Besseres fällt dir nicht ein?«
Mr Kessler kam ein Lächeln auf die Lippen, was bei ihm sehr selten geschah. »Ich könnte mir durchaus noch anderes vorstellen, wie man sich ohne Strümpfe die Zeit vertreiben kann, aber das wollte ich nicht vor den Kindern erwähnen.«
»Aber Papa!«, stießen Sascha und Beka gleichermaßen entrüstet hervor.
»Was stört euch beide denn so?«, versetzte Mrs Kessler, was komisch wirkte, denn auch sie hatte hochrote Wangen bekommen. »Alt sind wir zwar, aber noch nicht tot!«
»War es dann ein Dibbuk in dieser Geschichte?«, fragte Sascha seinen Großvater, um zum Thema zurückzukehren. »Oder war es nur ein gewöhnlicher Dämon?«
»Gute Frage!«, meinte Rabbi Kessler und wackelte zu seiner Bibliothek, um nach der Antwort zu suchen.
Doch so angestrengt er auch suchte, er fand die Antwort nicht. »Mag sein, dass ich mich an den Fall gar nicht erinnert habe. Vielleicht habe ich mir das Ganze nur ausgedacht. Mit zunehmendem Alter fällt es mir schwer, das auseinanderzuhalten.«
»Mach dir keine Sorgen«, tröstete ihn Sascha. Er selbst versuchte sich schon die ganze Zeit verzweifelt zu erinnern, ob er in letzter Zeit irgendwo Vogelspuren gesehen hatte, wo man eigentlich keine erwarten würde.
Aber Großvater Kessler machte sich allerdings Sorgen. »Dein Chef will es doch wohl nicht ganz allein mit einem Dibbuk aufnehmen, oder?«
»Äh, nein.« Sascha sagte sich, dass er eigentlich nicht log. Obwohl es sich so anfühlte.
»Das darf er nicht, sag ihm das! Ich bin überzeugt, dass Inquisitor Wolf ein sehr gewitzter junger Mann ist, aber für so etwas ist er nicht qualifiziert. Er hat doch wohl nicht vor, dich da
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