Der Seelenfänger (German Edition)
Haus zu gelangen. Nur noch die Treppe hinauf und er war daheim, wo Licht, Wärme und Familienleben auf ihn warteten.
Er schlich sich vorsichtig durch das Zimmer der Lehrers. Dann schlang er das Abendessen hinunter, das ihm seine Mutter warm gestellt hatte, und beruhigte sie, ihm fehle nichts und er habe sich keine Lungenentzündung geholt. Schließlich sank er erschöpft ins Bett.
Es ist alles in Ordnung, sagte er zu sich selbst, um die Albträume zu verscheuchen. Der Lumpensammler hatte ihn wieder gerettet.
Freilich wusste er, dass von einer wirklichen Rettung nicht die Rede sein konnte. Was noch kommen würde, war nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.
20 Der Pfad des Nichthandelns
In den folgenden Wochen schienen die Ermittlungen im Fall Edison ganz einzuschlafen. Und wenn Wolf doch weiterermittelte – und Sascha schnappte einige Gespräche zwischen Wolf und Payton auf, die diese Vermutung zuließen –, dann sagte er seinen Lehrlingen nichts davon.
Stattdessen ließ er sie in seine anderen Fälle hineinschnuppern. Und er hatte noch viele. Sascha und Lily erlebten mit, wie Wolf Fälle von magischem Versicherungsbetrug und magischer Erpressung löste. Auch ein besonders heimtückischer Mordfall war dabei. Ein allseits geachteter Geschäftsmann war angeblich an Herzversagen gestorben, doch es stellte sich heraus, dass er in Wirklichkeit mit einem hässlichen Zauber, der das Blut in den Adern des Opfers kochen ließ, um die Ecke gebracht worden war.
Nach und nach erkannte Sascha Methode hinter Wolfs berühmten exzentrischen Allüren. Er lernte, Wolfs Schweigen geduldig zu ertragen, und wartete auf die verblüffenden Lösungen, die plötzlich aufblitzten. Er wusste, wenn Wolf scheinbar absichtslos in die Gegend starrte, dann suchte er den Tatort nach dem Gegenstand ab, der nicht ins Bild passte, er fahndete nach dem losen Faden, der, einmal daran gezogen, eine noch so fein gesponnene Verschwörung auffliegen ließ.
Sascha zweifelte daran, dass er jemals ein Inquisitor wie Wolf werden würde. Ihm fehlte, redete er sich ein, einfach Wolfs Begabung. Und das eine Talent, das er besaß, schien nicht gefragt – denn wozu nützte es, magische Kräfte mit dem Zweiten Gesicht zu sehen, wenn die Inquisitoren immer erst dann gerufen wurden, nachdem die Magie ihr Werk getan und die Verbrecher längst über alle Berge waren? Selbst die terrierhafte Verbissenheit, mit der Lily an einer einmal entdeckten Spur festhielt, machte sie für diese Arbeit geeigneter als Sascha.
Wieso meinten alle, er habe das Zeug zum Inquisitor? Und warum bewies Wolf eine so unerschütterliche Geduld mit ihm? Wolfs Glaube an ihn schien nie zu wanken. Mehr noch, den Bemerkungen nach, die Wolf immer wieder scheinbar zusammenhanglos fallen ließ, war zu entnehmen, dass Wolf glaubte, er, Sascha, werde einmal ein viel besserer Inquisitor als sein Chef. Das sollte wohl Saschas Selbstbewusstsein stärken. Doch das Gegenteil war der Fall: Sascha fühlte sich wie ein Betrüger, vor allem, da er Wolf angelogen hatte.
Das Schlimmste aber war, dass Sascha keine Ahnung hatte, wie es mit dem Dibbuk weitergehen sollte. Tatsächlich wagte er gar nicht daran zu denken. Immer wenn er einen dunstigen Schleier um eine Straßenlaterne sah oder wenn ein feuchtkalter Nebel von den Docks herüberwehte und in ihm die Erinnerung an die schrecklichen Begegnungen mit dem Dibbuk heraufbeschwor, versuchte er die Erinnerung festzuhalten und nachzudenken, doch eine Welle aus Scham, Angst und Verwirrung spülte alles wieder fort.
Und als ob das noch nicht genügte, kam es in der Hester Street zu einer Serie mysteriöser kleinerer Delikte. Zuerst verschwand Mrs Lasskys Katze. Zwar tauchte sie einen Tag später wieder auf, aber Mrs Lassky konnte sich nicht erklären, wie die Katze aus einem abgeschlossenen Zimmer, zu dem nur sie den Schlüssel besaß, verschwunden war.
Dann begann jemand, Essen zu stehlen. Aus der Bäckerei Lassky, aus dem Krämerladen daneben, aus dem Zimmer der Lehrers, aus dem Hauptquartier der Internationalen Magischen Werktätigen ein Stockwerk höher, schließlich aus Mrs Kesslers Brotkasten. Das Verwunderliche daran war aber, dass der Dieb das Essen stahl und es dann nicht einmal verzehrte. Immer wieder fand jemand die gestohlenen Backwaren zerkrümelt auf Treppen oder in kleine Häufchen aufgeteilt und in den dunkelsten Ecken des Hinterhofes oder des Kellers versteckt.
Entweder war der Dieb der zerstreuteste Esser in der ganzen
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