Der Seelenfänger (German Edition)
hineinzuziehen, Saschale?«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Sascha. Ihn drückte das schlechte Gewissen.
»Wenn er das tut, dann verlässt du sein Büro und kommst schnurstracks nach Hause und berichtest mir alles. Versprich mir das!«
Konnte er sich noch tiefer in Lüge und Verstellung verstricken?
»Selbstverständlich, Großvater. Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
Zwischen den Lügen, die er Wolf erzählte, und den Lügen, die er daheim auftischte, fühlte sich Sascha nur in Shens KungFu-Stunden ganz er selbst.
Zu Lilys Enttäuschung nahmen sie für ihre erste Stunde nicht den magischen Weg zu Shens Übungssaal. Stattdessen brachte Payton sie nach Manhattan, wobei er die ganze Zeit über irgendetwas von Zeitverschwendung mit Kindermädchendiensten vor sich hin brummte. Als sie schließlich ankamen, begleitete er sie nicht einmal durch das Tor, sondern marschierte gleich weiter. So blieben die Kinder in dem baumbestandenen Innenhof zurück, unsicher, ob sie eintreten sollten oder nicht.
In der gefliesten Übungshalle hatte schon eine Lektion begonnen. Man hörte Füße auf den geschrubbten Steinfußboden klatschen und Körper auf Binsenmatten fallen.
»Was meinst du, was sollen wir tun?«, flüsterte Lily.
»Keine Ahnung«, flüsterte Sascha zurück. »Vielleicht erst einmal warten.«
Doch am Ende siegte die Neugierde über die Höflichkeit. Sie schlüpften durch die Tür und versteckten sich im Schatten eines Balkons, um das Training zu beobachten.
Sie erkannten Shen sofort; sie war nicht zu übersehen mit dem glänzenden schwarzen Haarzopf, der ihr im Rücken wie ein Wasserfall über den makellos weißen Baumwollanzug floss. Aber was ihre Aufmerksamkeit fesselte, waren die Waisenkinder. Viele sahen chinesisch aus, zumindest schien es Sascha so. Unter den vielen schwarzhaarigen Köpfen waren auch ein paar mit braunem und rotem Haar. Einige hätten sich auch gut in der Gesellschaft von Paddy Doyles Hexern gemacht.
Die Schüler verteilten sich über den ganzen Saal, einige boxten gegen Säcke, die mit Reis und Baumwolle gefüllt waren, andere warfen sich gegenseitig auf die Übungsmatten, und wieder andere streckten sich wie Balletttänzer. Die Hälfte der Schüler hatte sich in der Mitte des Saales in einer gleichsam militärischen Formation aufgestellt und vollführten die erstaunlichsten Übungsfiguren, die Sascha je gesehen hatte.
Sie bewegten sich in völligem Gleichklang und mit solcher Perfektion, dass sie wie ein einziger Körper wirkten. Jedes Glied der Formation hielt bei jeder Drehung, jedem Sprung und jedem Überschlag stets den gleichen Abstand zu seinen Nachbarn. Und die Übung endete mit einem einzigen donnernden Stampfen mehrerer Dutzend Füße.
Jetzt begriff Sascha, woher die Dellen im Steinfußboden stammten. Tausende nackter Füße hatten Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr und – soweit er über dieses geheimnisvolle Gebäude Bescheid wusste – Jahrhundert für Jahrhundert in vollkommener Koordination auf den Boden gestampft. Es war unglaublich. Was für einen Spagat ein Schüler gerade hinlegte! Und wie ein anderer Salti rückwärts ausführte! Und erst die Kinder, die sich Zweikämpfe auf den Übungsmatten lieferten – Sascha konnte den blitzschnellen Bewegungen von Händen und Füßen kaum folgen. Es ihnen nachzumachen, daran dachte er gar nicht erst. Vielleicht sollte er sich gleich wieder nach draußen schleichen, ehe Shen ihn bemerkte. Schließlich war abzusehen, womit es enden würde, wenn er bliebe, nämlich mit einer tiefen Demütigung.
Er schielte zu Lily hinüber, die ein Gesicht machte, als hege sie die gleichen Fluchtgedanken wie er. Aber noch bevor er den Mund aufmachen konnte, hatte Shen sie schon entdeckt und kam zu ihnen herüber.
»Nun«, fragte sie, »seid ihr bereit?«
»Nicht für so was!«
»Lasst euch von meinen Waisenkindern nicht einschüchtern. Sie üben das schon seit Jahren und geben vor Besuchern gerne ein bisschen an. Im Übrigen wird nicht erwartet, dass
Dabizi
überhaupt Kung-Fu praktizieren. Wenn ihr nur eure erste Übungsstunde übersteht, wird das schon Eindruck machen.«
»Was ist denn ein
Dabizi
?«, wollte Sascha wissen.
»Das ist ein abfälliger Ausdruck für westliche Menschen. Es heißt so viel wie ›Langnase‹.«
Sascha war verblüfft. Er hätte nicht gedacht, dass für Chinesen die Nasenform den Ausschlag gab. Lilys Nase war zum Beispiel kaum größer als Shens. Oder doch? Er versuchte Shens Nase zu
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