Der Seelenfänger (German Edition)
mustern, ohne dass es zu sehr auffiel.
»Ja, ich weiß, meine Nase«, räumte Shen ein. »Aber ich bin ja ein halber dabizi. Meine Mutter war Irin.«
»Wirklich?«, wunderte sich Lily. »Aber Sie sehen doch so, so …«
»Chinesisch aus?« Shen setzte eine ironische Miene auf, was ihr eine frappierende Ähnlichkeit mit Inquisitor Wolf gab. »Aber nicht für Chinesen, glaubt mir das.«
Sascha sah Shen staunend an. Er meinte sich zu erinnern, dass Chinesinnen die Einwanderung nach Amerika verboten war. Da in Chinatown aber immer viele Kinder zu sehen waren, die dort auf den Straßen spielten, hätte er sich eigentlich fragen müssen, wer wohl ihre Mütter waren. Shens Enthüllung machte ihn sprachlos. Er war in einer Stadt groß geworden, in der das Leben ihrer Bewohner in jeder Hinsicht – ob Kleidung oder Arbeit oder auch nur die Straßen, in denen man gefahrlos spazieren gehen konnte – von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe abhing. Halb Chinesin und halb Irin zu sein, hieß nicht, zu beiden Gruppen zu gehören, sondern vielmehr zu keiner. Sascha fragte sich, wie wohl Shens Leben aussah und wie es ihr gelang, ihre Schule (oder ihre Kung-Fu-Akademie oder ihr Waisenhaus, wie man es auch nennen mochte) zu schützen, in einer Stadt, die für Menschen wie sie eigentlich keinen Platz hatte.
Er war immer noch in Gedanken versunken, als Shen ihn und Lily zu einer Übungsmatte führte und sie mit einem gertenschlanken, vielleicht zehn Jahre alten Jungen bekannt machte.
»Joe fängt mit euch an«, sagte Shen. »Ich bin in, sagen wir, zehn Minuten zurück.«
Joe verneigte sich, straffte sich wieder und schüttelte beiden die Hand. Sascha musterte ihn, um herauszufinden, ob er auch halb irisch war. Aber er kam zu keinem Ergebnis.
»Seid ihr beiden bereit, loszulegen«, fragte Joe, »oder seid ihr bloß zum Gucken gekommen?«
Er streckte sich, dehnte die schmalen Arme und Beine wie Gummibänder, atmete tief ein … und demonstrierte eine Figur, die so einfach schien, dass Sascha sie gar nicht Kung-Fu genannt hätte. Sie begann mit einer fließenden Bewegung beider Hände, was schon beeindruckend exotisch aussah, und mündete in eine fast bodennahe Kauerstellung, die einem Fänger, der hinter seiner Gummimatte auf den Wurf des Pitchers wartete, recht ähnlich sah.
»Das ist die Stellung für Fortgeschrittene«, erläuterte Joe. »Keine Angst, ihr müsst die Knie nicht so stark beugen.« Er erhob sich wieder und klopfte den Staub von den Händen – obwohl er eigentlich nichts getan hatte, bei dem er sich die Hände hätte staubig machen können. »Das hier ist kein Wettbewerb. Macht es, so gut ihr könnt. Ich korrigiere dann eure Haltung.«
Sascha hätte am liebsten laut gelacht. Zehn Minuten lang Kniebeugen machen? Für einen Jungen, der in der Hester Street aufgewachsen war, der an Nähmaschinen mit Fußbetrieb gearbeitet und der randvolle Wassereimer viele Mietshaustreppen hochgeschleppt hatte, für den waren zehn Minuten Kniebeugen eigentlich keine Anstrengung. Sein Vater hatte recht, wenn er behauptete, dass Juden die einzigen Menschen auf der Erde waren, die wussten, was es heißt, hart zu arbeiten.
Er zuckte nur die Schultern und machte sich an die Übung. Doch als er die Beine streckte, um seine zweite Kniebeuge zu machen, unterbrach ihn Joe. »Nennst du das zehn Minuten? Das waren höchstens zehn Sekunden!«
Mehrere Schüler waren herbeigekommen, um sich die
Dabizi
anzuschauen. Jetzt lachten sie und knufften sich in die Rippen.
»Die
Dabizi
schnallen es nicht!«, machte sich einer lustig. »Sie meinen, wir machen hier den Hampelmann!«
Unterdessen hatte Sascha begriffen, dass er und Lily nicht zehn Minuten lang eine Kniebeuge nach der anderen machen, sondern dass sie in der einmal eingenommen Stellung verharren sollten.
Zuerst schien das nicht so schwer. Aber nach einer Minute wurde es schon ungemütlich. Nach einer weiteren Minute spürte Sascha ein Brennen in den Beinen. Die Knie zitterten und dann begannen die Beine vor Anstrengung zu zittern.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch sieben Minuten vor sich hatte.
Sein einziger Trost war, dass Lily mindestens ebenso zu leiden schien wie er. Immerhin konnte er der totalen Demütigung entgehen, wenn er länger aushielte als sie. Was blieb ihm anderes übrig? Dass ihn ein Mädchen ausstechen würde kam nicht infrage.
Die anderen Schüler hatten erkannt, dass es um ein Kräftemessen ging, und nutzten die Situation weidlich
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