Der Seelenfänger (German Edition)
aus. Man lachte nicht nur, man wettete auch, wer von den beiden als Erster zusammenbrechen würde. Die meisten sahen Sascha als Sieger, aber auch Lily hatte ihre Anhänger, vor allem unter den Mädchen.
Die Minuten zogen sich in die Länge und Saschas Gesicht lief vor Anstrengung rot an. Lily dagegen war weiß wie eine Wand. Bei jedem Atemzug sagte sich Sascha, er brauche nur noch eine Sekunde auszuhalten, da Lily gleich umkippen würde. Aber dann kam die nächste Sekunde und Lily hielt sich immer noch tapfer.
Sie war mit tödlichem Ernst dabei, daran bestand kein Zweifel. Sie war zwar ein Mädchen, aber sie wollte ihn schlagen, wie jeder Junge es gewollt hätte. Sascha hätte ihr gern für diese Chuzpe anerkennend zugenickt, doch er fürchtete, dabei hinzufallen.
Wer von ihnen länger ausgehalten hätte, blieb ungewiss, denn gerade als Sascha schon meinte, im nächsten Augenblick zusammenzubrechen, tauchte Shen wieder auf. »Das reicht für heute«, sagte sie, und auch der lautstarke Protest ihrer Schüler, die sich um ihre Wetten gebracht sahen, änderte daran nichts. »Ihr wart beide gut!«
Sascha und Lily purzelten zu Boden, ehe die Worte verklungen waren. Nach Luft schnappend lagen sie da, während Shen die anderen Kinder zu ihren Übungsmatten trieb. Als Sascha sich wieder so weit erholt hatte, um aufrecht sitzen zu können, fragte er Lily, wie es ihr gehe.
»Mir ist kotzelend!«
»Mir auch.«
»Jetzt sagst du mir wahrscheinlich gleich, dass du gewonnen hättest, wenn Shen nicht vorbeigekommen wäre«, sagte sie mit einer herausfordernden Kopfbewegung.
»Ehrlich gesagt, ich hätte es wohl keine fünf Sekunden länger ausgehalten.«
Lily sah ihn überrascht an. Dann grinste sie. »Mir ging’s genauso. Es war grauenhaft!«
Sascha grinste ebenfalls. Dann erstarb sein Grinsen, denn ihm wurde auf einmal klar: Er mochte Lily, ja, er mochte sie wirklich. Zu dumm, dass sie eine Astral war, reich und blond und … Er musste Paddy Doyle recht geben, ja, sie war recht hübsch. Peinlich, peinlich, nie im Leben hätte er sich vorgestellt, mit einem Mädchen befreundet sein zu können. Wenn Lily ein ganz normales Mädchen gewesen wäre, hätten sie dicke Freunde sein können.
21 Sascha sucht nach einem passenden Haus
Am folgenden Sonntag machte sich Sascha bei nasskaltem Oktoberwetter auf die Suche nach einem passenden Haus.
Es sollte schön, aber nicht zu stattlich sein, ein Haus, das er als sein Daheim ausgeben konnte, wenn Lilys Chauffeur ihn künftig nachmittags heimfuhr. Seit der Einladung zum Tee mit Mrs Astral war er mit immer neuen Entschuldigungen gekommen, aber nun wurde Lily doch misstrauisch. Und so, wie er Lily kannte, war nicht auszuschließen, dass sie ihn aus lauter Sturheit heimbegleitete.
Er begann seine Suche in der Nähe des Gramercy Park. Doch ein Blick auf die luxuriösen Stadthäuser und den schattigen Park hinter schmiedeeisernen Gittern belehrte ihn, dass Lily ihm eine Adresse in solch einer noblen Gegend nie glauben würde. Also suchte er weiter nach bescheideneren Häusern. The Tenderloin war auch nicht das Richtige – was für Herrschaften mochten hier wohnen? Die untere Fifth Avenue kam nicht infrage – all die schicken Apartmenthäuser mit arroganten Portiers, die ihn, noch ehe der Wagen der Astrals um die Ecke gebogen war, sicherlich fortgescheucht hätten. Rein theoretisch wäre der Astral Place passend gewesen, doch nicht einmal der garstige Regen konnte ihn so verzweifelt werden lassen, dass er Lily gesagt hätte, er wohne in einer Straße, die nach ihrem Urgroßvater benannt war.
Während Sascha im strömenden Regen durch die Straßen eilte, sah er an praktisch jeder Wand Werbeplakate für Edisons Ätherographen. Überall in der City nahmen Arbeiter Werbung für Kopfschmerztabletten, Heilmittel, Korsetts und Zigarillos ab und ersetzten sie durch das wohlbekannte Bild des heldenhaften Inquisitors und des buckelnden Kabbalisten. Offenbar versprachen sich J.P.Morgaunt und Edison von dem anstehenden Duell zwischen Houdini und Edison eine gewaltige Nachfrage nach maschinellen Detektoren – und das drückte Saschas Stimmung noch mehr als das garstige Wetter.
Gerade war er an einem Block mit schmucken Reihenhäusern angekommen, als er eine gespensterhafte Gestalt hinter sich spürte. Ihm gefror das Blut in den Adern beim Gedanken an den Dibbuk. Doch nein, es war ein Erwachsener, zwar kleinwüchsig, aber das lag daran, dass er chinesisch aussah.
Sascha tat so, als habe er
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