Der Seelenfänger (German Edition)
einmal müssen wir einen Kreis auf den Fußboden zeichnen«, sagte er zu den beiden Mädchen. »Dann brauchen wir ein Bettlaken.«
»Verflixt«, beschwerte sich Lily. »Du hättest du mir aber sagen müssen, dass wir eines brauchen.«
»Außerdem Kreide. Hat jemand Kreide dabei?«
»Nein. Du etwa?«
»Wenn ich welche hätte, würde ich dann fragen?«
»Bloß weil du Angst hast, brauchst du uns nicht so anzufahren«, sagte Lily in pikiertem Ton.
»Pst!«, machte Rosie. »Da kommt jemand.«
Alle warfen sich auf den Boden. Sie hörten, wie draußen auf der Straße jemand vorüberging, ein schwacher Lichtschein strich durch den Raum. Als sich die Schritte entfernt hatten, schlich Rosie ans Fenster und gab Entwarnung.
Sascha setzte sich auf und bemerkte, dass Lily ihn anstarrte. Der falsche Alarm hatte wohl ihre Nerven angegriffen, jedenfalls schien sie in Gedanken mit etwas zu kämpfen.
»Sascha?«, fragte sie zögernd. »Meinst du nicht, wir sollten vielleicht doch Inquisitor Wolf um Hilfe bitten, statt das hier allein zu machen?«
Selbstverständlich, ganz meine Meinung!,
hätte er am liebsten gesagt – aber dazu hätte er eingestehen müssen, warum er Wolf einfach nicht um Hilfe bitten konnte. Und deshalb zuckte er jetzt nur die Schultern.
»Er könnte dir helfen!«, sagte Lily. »Ich glaube nämlich, dass er selbst ein Magier ist.«
»Lächerlich!«, widersprach Sascha.
»Bist du dir da so sicher? Meine Mutter sagt, dass …«
»Was weiß denn deine Mutter über Zauberei?«, fragte Sascha höhnisch. Dabei wünschte er sich im Stillen, eine so rein amerikanische Familie zu haben wie die Astrals statt einer
Mischpoche
, in der es von Kabbalisten und Wundertätern nur so wimmelte. »Aber ihr wisst ja immer alles besser. Es ist leicht, anderen zu sagen, was sie zu tun haben, wenn man selbst nicht in der wirklichen Welt lebt und alles auf dem Silbertablett serviert bekommt. Wie du ja auch die Stelle als Wolfs Lehrling bekommen hast, obwohl wir doch alle wissen, dass du im späteren Leben nur eines zu tun brauchst, nämlich wie deine Mutter zu werden.«
»Ich habe nichts von meiner Mutter!«, schrie Lily. Dann hielt sie inne und biss sich auf die Lippen, als wollte sie damit ein Zittern unterbinden. »Egal. Vergiss, was ich gesagt habe. Die Idee war dumm.«
»Pfui!«, sagte Rosie, um das gespannte Schweigen zu lösen. »Hier ist es aber schmutzig!«
Womit sie recht hatte. Mo Lehrer mochte zwar ein guter
Schammes
sein, aber er war ein Mann. Und wie Saschas Mutter gern sagte, hörte die Vorstellung eines durchschnittlichen Mannes von Saubermachen dort auf, wo eine durchschnittliche Frau den Ausdruck »schmuddelig« verwendete. Mrs Kessler wischte daher täglich die Böden im Kampf gegen den Ruß, der aus Millionen Kohlenfeuern aufstieg und beim Herabrieseln jeden Quadratzoll der Stadt bedeckte. Mo dagegen schwang nur hin und wieder den Besen und das Ergebnis war entsprechend.
»Immerhin brauchen wir keine Kreide«, meinte Sascha optimistisch. »Wir können den Kreis in den Staub zeichnen. Aber einer sollte Schmiere stehen. Lily, bleibst du am Fenster und behältst die Straße im Auge?«
»Schön«, grummelte Lily. Man hörte ihrer Stimme an, dass sie immer noch schmollte. Wie es Mädchen eben tun, sagte sich Sascha. Na ja, vielleicht war er auch gemein gewesen. Aber das konnte er später immer noch gutmachen. Selbst ein Mädchen musste einsehen, dass er jetzt nicht alles sausen lassen und sich entschuldigen konnte.
»Was machen wir als Nächstes?«, wollte Rosie wissen. »Solltest du nicht deine Phy–, äh, deine komischen Riemen anlegen?«
»Keine Ahnung«, sagte Sascha.
»Was denkst du denn, was jetzt angebracht wäre?«, erkundigte sich Rosie absichtlich umständlich.
»Ich denke, dass mein Großvater einen Herzschlag bekäme, wenn er das hier sähe.«
»Schön, aber …«
»Schon gut, schon gut! Ich mache es!«
Sascha legte brav Phylakterien und Gebetsschal an. Im gleichen Augenblick hatte er das sichere Gefühl, dass er drauf und dran war, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Um seine Verlegenheit zu überspielen, dachte er an die Geschichte von dem Rabbi, der einen Gottesdienst zum
Jom Kippur
in der Hölle feierte. Er wollte die Dämonen dadurch retten, dass er ihnen die Freiheit verschaffte, in den Himmel zu gehen, während er sich selbst zur ewigen Verdammnis verurteilte. Sascha stellte sich vor, er würde etwas ähnlich Hochherziges tun, er würde seine Seele opfern, um …,
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