Der Seelenhändler
der in den Klöstern des Abendlandes seit den Zeiten Benedikts von Nursia vom Beginn eines neuen Tages kündet.
Kaum war dieser Gesang verhallt, stiegen zwei Mönche auf die Kanzel und intonierten Venite exultemus , den vierundneunzigsten der Psalmen. Abermals erhoben sich die Stimmen aller, füllten das Gewölbe mit Macht, hallten die Mauern wider vom dunklen Klang eines gesungenen Gebets, dessen Text bereits weit über ein Jahrtausend alt war: Venite adoremus et curvemur flectamus genua ante faciem Domini factoris nostri …
… non introirent in requiem meam …
Die letzten Worte des Psalms waren noch nicht verhallt, als Bruder Franziskus, einer der Vigilanten, Prior Otto einen sorgenvollen Blick zuwarf, der mit einem verneinenden Schütteln seines grauen Hauptes verbunden war. Der Grund: Bruder Vitus, der Vorsteher der äußeren Schule, war immer noch nicht eingetroffen; sein Platz im Chorgestühl leer.
Das war an und für sich schon etwas Ungewöhnliches, galt doch Bruder Vitus als ein Muster an Disziplin und Zuverlässigkeit. Umso unerhörter war es, dass er unentschuldigt fehlte. Schon als Franziskus vor Beginn der Matutin zur äußeren Schule hinübergegangen war, um Vitus, wie jede Nacht, zu wecken, war er auf eine leere Zelle gestoßen. Obwohl der Schulmeister wie die anderen Mönche zum Konvent gehörte, schlief er nicht mit seinen Mitbrüdern im gemeinsamen Dormitorium. Schon seit Jahren verbrachte er die Nacht im Gebäude der äußeren Schule, unmittelbar in der Nähe des Schlafraums der ihm anvertrauten Schüler, damit er seiner Aufsichtspflicht besser nachkommen konnte.
Weitere Psalmen wurden gesungen. Nach ihrem Verklingen folgte die Lesung aus der Heiligen Schrift. Bruder Anselm las die mahnenden Worte. Er war einer der Brüder, die äußerst emphatisch zu lesen verstanden, dennoch kam es immer wieder vor, dass das Haupt des einen oder anderen während der nächtlichen Lesung vor lauter Müdigkeit nach vorne kippte. Aus diesem Grund ging einer der Vigilanten stets mit einer Lampe durch die Reihen, leuchtete sämtlichen im Chorgestühl Versammelten ins Gesicht und verhalf so denjenigen, die im Begriff standen einzunicken, dazu, sich ihrer Pflicht bewusst zu werden – auch wenn der Nachtdämon seine Krallenfinger noch so sehr auf die Augenlider drücken mochte.
… Te deum laudamus …
Noch einmal vereinten sich die Stimmen im gesungenen Gebet und trafen gemeinsam jenen Ton, der die gläubige Seele zum Schwingen bringt. Erneut füllte er das Kircheninnere, um schließlich, Mauern und Türen überwindend, in die sternfunkelnde Stille zu entweichen und gedämpft im fernen Dunkel zu verhallen.
Eine Allegorie der Vergänglichkeit menschlichen Lebens.
Und ein letzter Gruß an einen sterbenden Mönch, der in einem verfallenen Brunnenschacht hinter den Klosterställen seinem Tod entgegendämmerte.
31
„Dem Herrn sei Dank, edle Dame, dass Ihr endlich da seid! Der Vater Prior sucht nach Euch. Das mit Bruder Vitus und Bertram – Ihr wisst schon, was geschehen ist?“
Remigius wirkte regelrecht verstört. Als ältester der Novizen in Admont vertrat er Theobald, den Pförtner, der bei der außerordentlichen Kapitelversammlung zugegen sein wollte, die in einer halben Stunde stattfinden würde. Schon von Weitem hatte Remigius Katharina kommen sehen und war ihr, heftig atmend ob seiner Leibesfülle, entgegengeeilt.
Hart brachte Katharina ihren Fuchs zum Stehen.
„Was geschehen ist? Nein. Aber es scheint nicht gerade etwas Erfreuliches zu sein, deiner Miene nach zu urteilen“, erwiderte sie, während sich ein flaues Gefühl in ihrer Magengrube ausbreitete.
„Bruder Vitus – er ist tot, ermordet. Und Bertram ist verschwunden.“ Remigius rang sichtlich um Fassung.
Katharina wurde schwindlig. Für die Dauer eines Herzschlags glaubte sie, den Himmel über sich einstürzen zu sehen.
Dann aber drosch sie dem Fuchs die Fersen in die Weichen, preschte in einem wilden Ritt dem Tor entgegen, passierte es staubwirbelnd und sprengte, ungeachtet einiger Brüder, die erschreckt zur Seite sprangen, geradewegs durch den Hof hinüber zum Abtshaus.
Dort öffnete sich in eben diesem Moment die Tür, und Prior Metschacher trat heraus.
Abrupt blieb er stehen.
„Den Heiligen sei Dank, da seid Ihr ja, edles Fräulein“, rief Metschacher entgegen seiner Gewohnheit laut aus. Der Klang seiner Stimme und der Ausdruck in seiner Miene bestätigten Remigius’ Botschaft.
Das Pferd war noch nicht einmal zum Stehen
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