Der Seelenhändler
Tag an seinem geistigen Auge vorüberziehen. Und wieder verspürte er dabei jene eigenartige Irritation, die ihn seit gestern nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Eine bohrende Gewissheit, dass anlässlich der gestrigen Gesprächsrunde in der großen Halle, bei der der Graf die Gäste aus Steyr über den vermissten Transport informiert hatte, irgendjemand etwas Entscheidendes gesagt hatte, an das er sich nicht mehr zu erinnern vermochte. Etwas, das nicht ins Bild der Ereignisse rund um die Tragödie in der Buchau passte.
Das Eigenartige war nur, dass sich dieses nicht greifbare Etwas schon nach dem mit den Steyrern gemeinsam eingenommenen Mittagsmahl irgendwo in seinem Innern einzunisten begonnen hatte. Anfänglich hatte er dem noch keine größere Beachtung beigemessen – es sogar verdrängt. Erst als sie gestern die Leiche des Fuhrknechtes gefunden hatten, war es schlagartig wieder aus den Tiefen seines Bewusstseins aufgetaucht und hatte sich in den Vordergrund gedrängt. Warum dies so war, wusste er nicht.
Unwillkürlich verglich er die Überlegungen, die er bisher angestellt hatte, mit einem Schachspiel, das er in Gedanken spielte. Wobei ihm zwangsläufig die seltsam geformten Figuren des Spiels einfielen, das der Saurauer besaß. Figuren, die angeblich schon vor Jahrhunderten aus dem Gebein unheimlicher Bestien geschnitzt worden waren, welche die Gestade der nördlichen Meere bevölkerten. Das Schachzabel befand sich schon seit mehreren Generationen im Besitz derer von Saurau; niemand wusste mehr, auf welch verschlungenen Pfaden es einst in ihre Hände gelangt war.
Sämtliche Hinweise, Spuren und Personen waren wie die Figuren dieses Spiels, die auf dem Brett hin- und herwanderten. Figuren allerdings, die zum großen Teil aus dunklen, nur schwer greifbaren Schatten zu bestehen schienen. Nur auf wenigen von ihnen lag ein Lichtschimmer, der ihre reliefartig herausgearbeiteten, merkwürdigen Gesichter klar konturierte. Die Meisten von ihnen verbargen ihre starr geschnitzten Züge jedoch im diffusen Halbdunkel und muteten eigenartig fremd an. Nur ihre Konturen ließen mit einiger Mühe Funktion und Stand erkennen.
Eine dieser Figuren stand jedoch seltsamerweise auf einmal nicht mehr dort, wo sie korrekterweise hingehörte, und brachte dadurch den Verlauf des Spieles durcheinander. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, um welche Figur es sich dabei handelte. War es ein Bauer, dessen Position sich nur geringfügig verschoben hatte, und bewegte er sich nun irgendwo am Rande, ohne groß Einfluss auf die nächsten Züge nehmen zu können? Oder war die Position des Bauern spielentscheidend? Vielleicht war es aber auch gar kein Bauer, sondern ein Springer, Läufer oder Turm? Oder gar die Dame selbst? Er wusste es nicht. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzuspielen. Auch auf die Gefahr hin, einen falschen Zug zu machen. Denn das Spiel zu unterbrechen hieße, aufzugeben. Und
Kapitulation war das Letzte, woran er dachte.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.
Er ging zur Tür und öffnete.
Vor ihm stand Katharina. Sie trug eine blaue Cotte und sah hinreißend aus.
„Wollt Ihr mit mir das Frühmahl einnehmen? Oder habt Ihr auch heute beschlossen, Hunger und ein wenig Plaudern durch Grübeln zu ersetzen?“, fragte sie ihn schmunzelnd.
Er bemerkte den leichten Vorwurf sehr wohl und zeigte ein zerknirschtes Lächeln. „Ihr habt Recht. Ich habe mich gestern wohl ziemlich danebenbenommen.“
„Nein, habt Ihr nicht. Ich weiß, dass eine große Bürde auf Euch lastet. Dennoch, Ihr wisst ja, mit leerem Magen lässt sich’s schlecht denken.“
„Mit vollem erst recht“, lachte er. „Aber, weiß Gott, ein wenig sollte er schon gefüllt werden. Sonst hängt er durch wie ein leerer Sack.“
„Seht Ihr, so gefallt Ihr mir schon besser“, antwortete sie und lachte ebenfalls.
Während er ihr in den kleinen Saal folgte, dachte er unwillkürlich an den Vorfall zurück, der sie gestern hatte aneinandergeraten lassen. Jetzt, im Nachhinein, verstand er, warum sein Verhalten eine so ungewöhnlich heftige Reaktion bei ihr hervorgerufen hatte. Es war nicht so sehr die Art und Weise, wie er seinem Ärger Luft gemacht hatte. Sondern vielmehr der Umstand, dass seine Worte zwar gut gemeint gewesen waren, aber dennoch eine Bevormundung enthalten hatten, die eine Person, die es gewohnt war, selbständig Entscheidungen zu treffen, geradezu zwangsläufig in Rage bringen musste. Und genau solch eine selbstständig
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