Der Seelenhändler
intensiver er darüber nachdachte, desto mehr ließ seine Besorgnis die absonderlichsten Gedanken in ihm aufkommen. Zorn auf sich selbst überkam ihn. Warum hatte er überhaupt zugelassen, dass sie weggegangen war?
Seine Unruhe wuchs. Umso mehr, als das Rufen mit einem Mal aufgehört hatte.
Nein, da war es wieder – lang gezogen diesmal: „W-o-o-l-f!, W-o-o-l-f!“
Osten, konstatierte er.
Wieder hetzte er zwischen den Bäumen hindurch, wieder schlugen ihm Äste und Blätter ins Gesicht, doch zumindest kam das Rufen näher.
„W-o-o-l-f, h-i-e-r-h-e-r; h-i-e-r-h-e-r, W-o-o-l-f!“
Endlich wich das Zwielicht des Waldes. Zwischen unzähligen Stämmen nahm er einen hellen Fleck war – eine kleine, baumfreie Schneise, in die das Sonnenlicht fiel.
Jetzt sah er auch die Klingfurtherin. Die Hände zu einem Trichter geformt, um den Klang ihrer Stimme zu verstärken, stand sie neben den Resten eines vermoderten Baumstumpfes. Gerade hatte sie erneut nach ihm gerufen.
Eine Last fiel von ihm ab, während er, nun ohne die Notwendigkeit besonderer Eile, weiter vorwärtsdrang …
Noch bevor sie ihn sah, wusste Katharina aufgrund des Knackens im Unterholz, dass Wolf nahte. Wenige Augenblicke später trat er aus dem dunklen Schatten der Bäume in die lichtdurchflutete Schneise.
„Endlich!“, rief sie, als er auf sie zutrat; ihre Stimme zitterte leicht. „Ich dachte schon, Ihr würdet mich niemals finden.“
„Ihr seid gut“, entgegnete Wolf in ärgerlichem Ton. „Habt Ihr schon einmal versucht, einer Stimme nachzulaufen, die im Wald in alle Richtungen verhallt und Euch an der Nase herumführt? Was, zum Teufel, ist eigentlich in Euch gefahren, dass Ihr Euch die Seele aus dem Leib schreit, nur weil Ihr Euch verlaufen habt? Wisst Ihr überhaupt, dass ich vor lauter Sorge …“ Er unterbrach sich. Erst jetzt bemerkte er den entsetzten Ausdruck in ihren Augen.
„Katharina! Was ist mit Euch? Was ist geschehen?“, fragte er höchst besorgt.
„Was geschehen ist? Zuerst haut Ihr mir Eure Vorwürfe um die Ohren, und dann fragt Ihr, was geschehen ist?“, fuhr sie ihn zornfunkelnd an. „Kommt, ich will es Euch zeigen! – Aber vorher nehmt gefälligst eines zur Kenntnis: Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen, verstanden? Von wegen verlaufen; was Euch nur einfällt!“
Wütend stapfte sie auf die im Schatten liegende andere Seite des vermoderten Stamms hinüber.
„Hier, seht selbst! Das ist Dietrich, einer der Fuhrmänner. Oder besser gesagt: das, was von ihm noch übrig ist!“
Wolf erstarrte.
Die Leiche des Mannes hinter dem toten Stamm bot einen fürchterlichen Anblick. Die aus dem Mund hervorgequollene Zunge war dick geschwollen und braun-grünlich verfärbt. Der Leib war aufgedunsen, Ungeziefer kroch über ihn hinweg. An den mit schwarzblauen Flecken übersäten unbekleideten Stellen des Körpers, im Gesicht sowie an Armen und Beinen, waren Hunderte von Ameisen dabei, ganze Arbeit zu leisten. Am rechten Oberarm schien sich bereits ein Fuchs oder ein anderes Raubtier gütlich getan zu haben, er war bis auf den Knochen angefressen. Ungeachtet des grausigen Anblicks und trotz des penetranten süßlichen Verwesungsgeruchs ging Wolf in die Hocke, um den Toten näher in Augenschein zu nehmen. Der Mann mochte um die sechzig Jahre zählen und war einfach, fast ärmlich gekleidet. Über den abgenutzten Beinlingen trug er ein weites, ausgebleichtes Hemd, das früher einmal tiefblau gewesen sein mochte, an den Füßen abgewetzte Stiefel, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Im Gürtel steckte eine eng zusammengerollte, kurze Peitsche. Als Wolf genauer hinsah, entdeckte er auch den Stich, der seinem Leben eine Ende bereitet hatte.
„Verzeiht, Katharina“, entschuldigte er sich zerknirscht, während er sich erhob. „Eigentlich hätte ich wissen sollen, dass Ihr nicht ohne Grund nach mir ruft.“
„Ist schon gut. Ich wollte, dass Ihr Euch die Bescherung anseht. Natürlich hätte ich die Strecke durch den Wald zurücklaufen können, um Euch zu holen. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich wieder hierher zurückfinden würde. Deswegen rief ich nach Euch“, antwortete sie versöhnlich. Ihr Zorn war so schnell wieder verraucht, wie er gekommen war.
„Ihr habt richtig gehandelt. Es war vernünftig, hier auf mich zu warten.“
Nachdenklich glitt Wolfs Blick über die Leiche. Auch Katharina musterte den toten Fuhrmann, dessen Augen blicklos ins Leere starrten. Mit einem Mal sah sie auf.
„Engelbert und
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