Der Seelenleser
wissen«, sagte sie. » Ich hatte mit diesem Mann eine Affäre. Und es war manchmal ein wenig wild. Aber bis auf die letzten Male, war es niemals…, wie soll ich sagen… bizarr.« Sie bewegte ihre Schultern und den langen Hals– ein nervöses Beharren auf Contenance.
» Ich habe ihm vertraut, dass er innerhalb gewisser Grenzen bleibt. Man macht Sachen aus, und dann lässt man sich einfach gehen. Dieses Kribbeln, dieser Reiz, das ist ja irgendwie ein Teil davon, oder?«
Fane sah eine Frau, die von ihren eigenen Gedanken so verwirrt wurde, dass sie kaum mehr richtig funktionieren konnte. Aus Gründen, die er nicht kannte, war die Realität etwas, das Lore Cha nicht ertragen konnte. Für sie war ihre Fantasie besser lenkbar und angenehmer. Er vermutete, dass sie schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, einen Grund dafür zu suchen.
» Bizarr, oder besser: verrückt«, sagte sie und machte eine Pause. Er konnte nicht sagen, ob sie versuchte, die passenden Begriffe zu finden, oder ob sie ihren Gedankenfaden verloren hatte. » Manchmal gibt es vom Verrücktsein kein Zurück mehr.«
Kapitel 14
Libbys Stimme ertönte in Romas Kopfhörer.
» Pass auf, ein Kerl mit einer Mütze wie ein Zeitungsausträger und einer Marinejacke, so einem Caban, ist gerade unter den Bäumen entlang der Hyde Street aufgetaucht, kam aus der Lombard Street. Er geht zur Südseite der Greenwich Street, jetzt hat er die Hyde überquert, ist in die Greenwich abgebogen und geht da die Treppen nach unten.«
Roma legte ein Lesezeichen in das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte, und legte es beiseite. Sie saß mit Jon Bücher in dessen Technik-Lkw, den sie drei Blocks von Vera Lists Praxis entfernt geparkt hatten. Roma schaute auf die Uhr. Es war 02:40 Uhr morgens.
Libby Mane war die Chefin eines dreiköpfigen Überwachungsteams, und Roma vergab Aufträge meistens an sie, wenn sie entsprechende Fertigkeiten benötigte. Libby und ihre Mitarbeiter Reed und Mark waren alle drei früher in der Drogenüberwachungsbehörde DEA gewesen, und sie arbeiteten mit einer intuitiven Effizienz zusammen, durch die sie eine Klasse besser waren als andere anmietbare Überwachungsteams. Roma hatte Libby über Jon Bücher kennengelernt, kurz nachdem sie nach San Francisco gekommen war, und sie hatten sich von Anfang an gut verstanden. Seitdem hatten sie immer wieder zusammengearbeitet.
» Was macht er jetzt?«, fragte Roma zurück.
» Er ist hinter den Hecken, die dort zwischen Bürgersteig und Straße wachsen. Okay…, da… Er ist gerade in den ersten Hinterhof gegangen.«
Sie hatten die Blicke auf einen der zwei Videomonitore im Lkw gerichtet. Der erste Monitor war in vier Quadranten unterteilt, jeweils einer für jede der vier versteckten Überwachungskameras in Veras Praxis. Bücher konnte jeden der Quadranten dann auf dem zweiten Monitor vergrößern.
Roma warf einen Blick auf ihren Laptop, der das Satellitenbild des Blocks mit Veras Praxis zeigte. Sie stellte sich vor, wie der Mann durch die drei Höfe ging, an einem Mehrfamilienhaus und an dem Springbrunnen mit den Parkbänken vorbei, und schließlich durch den Torbogen in der hohen Hecke vor dem Gebäude trat. Er würde eine E-Karte benutzen, um in das Gebäude zu kommen, und dann mit dem kleinen Lift nach oben fahren.
Es schien unheimlich lange zu dauern.
» Vielleicht war es nichts«, sagte Bücher. » Fehlalarm.«
» Vielleicht.«
Und dann öffnete sich die Tür zum Wartezimmer.
Der Schirm der Mütze verdeckte das Gesicht des Mannes, der gerade die Tür schloss. Dann blieb er dort stehen und wartete. Er machte nicht Pause, sondern stand so still wie auf einer Fotografie. Eine Minute lang, zwei Minuten, zweieinhalb…
» Er lauscht«, dachte Bücher laut nach.
» Worauf?«
» Oder vielleicht wartet er darauf, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen.«
Dann griff der Mann zu seinem Kopf und nahm die Mütze ab. Langes dunkles Haar quoll hervor.
» Oho«, sagte Roma.
» Da brate mir doch einer einen Storch.«
Die Frau drehte sich um und legte die Mütze auf den Stuhl neben der Tür. Dann knöpfte sie ihre Marinejacke auf, zog sie aus und hängte sie sorgfältig über die Armlehne des Stuhls.
Sie holte eine kleine Taschenlampe aus ihrer Jeans und knipste sie an. Sie ließ den Strahl durch das Wartezimmer wandern und dann auf einem kleinen Tisch verweilen. Sie ging hinüber, griff in eine Schale und holte sich ein Bonbon heraus, das sie auswickelte. Sie steckte das Papier in ihre
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