Der Seelenleser
bevor er die Frage stellte.
» Wer war sie?«
» Das hat sie nicht gesagt, aber sie war Asiatin. Eine sehr attraktive Asiatin. Über dreißig, würde ich sagen.«
Er legte auf und saß wie erstarrt, während er auf die Seite mit den Notizen auf seinem Computerbildschirm starrte. Falls sie in Hieroglyphen geschrieben wären, hätte er es nicht bemerkt. Stattdessen konzentrierten sich seine Gedanken sofort auf die Neubewertung einer Triade wichtiger Details. War es möglich, dass er bei seinen letzten Treffen mit Lore und Elise seine Karten wieder überreizt hatte? Hatte er den gleichen Fehler gemacht wie bei Britta Weston? Wie konnte ihm das bloß unterlaufen sein?
Er wollte es nicht glauben, aber er musste auf dem Boden der Tatsachen bleiben und nur den Tatsachen Aufmerksamkeit schenken.
Zuerst war die Sache vor drei Abenden im Castro-Viertel gewesen, wo er aufgewacht war und Lore beim Stöbern in seiner Brieftasche erwischt hatte. Und sie hatte sich schnell verabschiedet, irgendetwas mit Ehemann und Verpflichtungen. Das war eine so durchsichtige Ausrede gewesen– er hatte sich gewundert, dass sie sie überhaupt verwendet hatte.
Dann durfte er die Situation gestern Abend mit Elise nicht vergessen. Er hatte gedacht, dass er die Szene mit genau der richtigen Mischung aus emotionaler Präzision, aus Überraschung, Einblick und Drohung geplant hatte. Doch ihre Reaktion war anders ausgefallen, als er erwartet hatte, und ihn hatte geärgert, dass es nicht so lief, wie er das wollte. Verdammt, die ganze Situation war aus dem Ruder gelaufen.
Und schließlich war jetzt auch noch Lore in Mill Valley aufgetaucht. Sie war gefährlich neugierig. Verdammt! In seinem Geschäft musste man oft teuer dafür bezahlen, wenn man eine seltsame Bemerkung oder eine Ungereimtheit einfach ignorierte. Und drei davon innerhalb weniger Tage zu ignorieren… Das könnte tödlich sein.
Dabei lief ihm die Zeit davon. Er hatte nur diesen einen Versuch zu beweisen, dass er es konnte. Sie würden ihm keine zweite Gelegenheit einräumen.
Schnell plante er den nächsten Schritt. Lore hatte am Vortag einen Termin bei Vera List gehabt, und Elise würde ihren heute Nachmittag haben. Er wusste, dass beide alles über die aufwühlenden Treffen mit ihm bei ihr abladen würden, und er wollte auf keinen Fall eine ganze Woche warten, um herauszufinden, was sie berichtet hatten.
Er starrte immer noch auf den Bildschirm, während seine Gedanken weiterhin um das Zusammentreffen der schlechten Omina kreisten. Herrgott, wenn er daran dachte, wie das alles zusammenpasste, dann schien es ernst zu sein. Er beschloss, Celia Negri in der nächsten Nacht noch einmal in Vera Lists Praxis zu schicken. Obwohl Celia eigentlich erst nächste Woche wieder dran gewesen wäre, würde sie es trotzdem tun. Wegen des Geldes.
Kapitel 19
Es war kurz vor elf Uhr, als Fane Vera auf ihrem Mobiltelefon anrief. Eine halbe Stunde später rief sie zurück.
» Tut mir leid«, sagte sie. » Ich hatte eine Sitzung mit einem Klienten.«
» Ich würde Ihnen gerne das Video von letzter Nacht zeigen«, sagte er. » Passt es, wenn ich gleich rüberkomme?«
» Ich bin nicht in der Praxis«, sagte sie. » Ich bin gerade oberhalb des Yachthafens, in der Nähe von Green und Union. Können wir uns irgendwo treffen?«
» Sie sind nur fünf Minuten von meinem Haus entfernt.«
Sie trug ein schwarz-weißes, ärmelloses Kleid. Ihr dunkles Haar hatte sie im Nacken zusammengefasst, sodass man ihre kleinen ovalen Ohrringe aus Onyx in geflochtenem Silber sehen konnte.
» Es dauert nicht lange«, sagte er, als sie gemeinsam durch den Hausflur gingen. » Ungefähr siebzehn Minuten.«
Er stellte einen zweiten Stuhl für sie an seinen Schreibtisch und klickte die Dateiverknüpfung von Bücher an. Während sie die Pantomime verfolgte, die sich vor wenigen Stunden in ihrer Praxis abgespielt hatte, beobachtete er ihr Gesicht. Ihre Konzentration war scharf wie ein Laser und ihr Rücken steif wie ein Stock, als sie zuschaute, wie Celia Negri ihre Bonbons aß, die Schubladen ihres Schreibtisches durchsuchte und ihre persönlichen Gegenstände anfasste.
Als das Video abgelaufen war, schüttelte sie den Kopf. » Was war das denn?«
Er hatte erwartet, dass sie verärgert sein könnte. Viele Leute waren wütend, wenn sie sehen mussten, wie Eindringlinge sich in ihrer privaten Welt umschauten. Doch Vera schien eher verstehen zu wollen, wie das, was sie gerade gesehen hatte, in den Zusammenhang passte.
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