Der Seelenleser
inzwischen keine Bedeutung mehr«, sagte sie, » was wehtut und was nicht– und warum. Ich frage mich nur…, ob er bekommen hat, was er wollte.«
Fane war von ihrer traurigen Neugier berührt.
» Ich befürchte, dass ich darauf noch keine Antwort habe«, sagte er.
» Aber…?«
» Aber… ich denke, dass er grundsätzlich etwas anderes wollte.«
Sie wartete, dass er fortfuhr, und legte den Kopf leicht schräg. » Das verstehe ich nicht«, sagte sie schließlich.
Fane konnte Elises Geschichte nicht vergessen, genauso wenig wie die Echos seiner eigenen trostlosen Kindheit, die durch sie wieder hervorgerufen wurden. In dieser Verlassenheit, in dieser Art von Einsamkeit steckte eine Herabwürdigung des Kindes. Es schmerzt die kindliche Seele, wenn es glaubt, dass es überhaupt nicht wichtig ist– für niemanden.
» Ich fürchte«, sagte Fane, » bezüglich seines Motivs für das Ganze war ich wohl auf der falschen Spur.«
Lore kam zurück in das Zimmer.
» Also, wie sieht es jetzt aus?«, fragte sie. » Haben wir einen Plan, oder was?« Sie hatte ihren Bob wieder in Ordnung gebracht und auch ihre Fassung wiedergefunden. Die Entschlossenheit, Ryan Kroll festzunageln, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Fane schaute zu Vera hinüber, die während seiner Unterhaltung mit Elise still geblieben war. Er hatte das Gefühl, dass sie schon ahnte, was er als Nächstes sagen wollte.
» Darüber müssen wir noch ein wenig reden«, sagte er. Vera stand auf, um sich auf das Sofa neben Elise zu setzen. Lore saß wieder mit übereinandergeschlagenen Beinen im Lehnstuhl.
» Wir wollen gefälschte Einträge in die Sitzungsprotokolle einfügen, die Vera über jede von Ihnen erstellt. Wir wollen, dass diese Einträge etwas enthalten, das Kroll heranlockt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir müssen ihn leibhaftig zu fassen bekommen. Was wir in Ihre Akten einfügen, muss ihn anziehen, nicht abstoßen. Und vergessen Sie nicht, falls er etwas liest, was für ihn zu seltsam klingt, falls bei ihm die Alarmglocken angehen, dann haben wir alles verloren.«
Alle drei Frauen blickten ihn an.
» Elise und Lore, Ihre letzten Begegnungen mit Kroll waren… sehr belastend. Sie müssen sich vor Augen halten, dass alles, was er getan hat, einen bestimmten Grund hatte. Möglicherweise wollte er eine Reaktion bei Ihnen provozieren. Vielleicht wollte er Sie verletzen. Wir können nicht sagen, was er genau vorhatte. Aber wenn irgendjemand weiß, worauf er aus sein könnte, wenn jemand möglicherweise Einblicke hat, dann sind es Sie beide.«
Er machte eine kurze Pause, damit die Aussage Zeit hatte, bei ihnen anzukommen.
» So viel Sie auch schon mit Vera darüber geredet haben«, fuhr er fort, » Sie können noch nicht alles erzählt haben, was es über diese beiden Treffen zu berichten gibt. Und jetzt, nachdem Sie mehr über Kroll wissen als damals, können Sie möglicherweise Ihre Beziehung zu ihm aus einer neuen Perspektive betrachten.«
Elise ließ ihren Kopf sinken. Ob aus Verlegenheit, Scham oder Verwirrung– er konnte es nicht sagen. Lore begann wieder, mit ihrem Fuß zu wippen.
» Sie müssen das, was Sie wissen, mit dem verschmelzen, was Sie über ihn vermuten, was Ihre Intuition Ihnen sagt. Sie müssen eine Mischung aus Wahrheit und Lügen erzeugen, die auf diesen Kerl wie Nektar wirkt, sodass er sich schon möglichst bald wieder mit Ihnen treffen will.«
» Einen Moment noch«, sagte Vera, sie starrte Fane zornig an und lehnte sich herausfordernd auf dem Sofa vor, doch Elise unterbrach sie.
» Nein, Vera, er hat recht«, sagte sie. Sie ließ Fane nicht aus den Augen, während sie sprach. » Beim ersten Anzeichen, dass irgendetwas falsch läuft, wird er verschwinden. Falls dies geschieht, wird keine von uns je von ihm befreit sein. Ich muss das tun.«
Als Fane zu Lore hinüberblickte, musste er staunend feststellen, dass sie leise weinte. Sie schaute ihn mit einem gequälten Blick an, der ihn tief berührte. Er konnte nicht genau sagen, ob sie eher wütend oder verängstigt war, aber es bestand kein Zweifel daran, dass die Geschichte sie aufgewühlt hatte. Ihr großspuriges und direktes Auftreten war verschwunden, und Fane erkannte plötzlich, wie zerbrechlich und schwach sie dahinter war.
Sie konnte nicht sprechen, aber sie nickte mit aller Kraft, die ihr geblieben war.
Kapitel 30
Als Celia Negri aus dem medizinischen Zentrum trat, lag schon die Dämmerung über der Stadt. Überall gingen die Lichter an, als sie von der Carl
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