Der Seelensammler
keine
Widerrede. »Es ist nicht vernünftig, ins Hotel zurückzugehen.«
»Ich glaube nicht, dass mir dort etwas passieren wird. Außerdem sind
meine ganzen Sachen noch da.«
»Die holen wir morgen früh. Im Nebenzimmer steht ein bequemes Sofa«,
sagte er lächelnd. »Natürlich werde ich darauf schlafen.«
Wenig später war das Risotto fertig, und sie begannen schweigend zu
essen. Sandra schmeckte der Fisch ausgezeichnet, und der Wein half ihr, sich zu
entspannen. Aber nicht so, wie sie sich seit Davids Tod nach dem Nachhausekommen
mit Rotwein betäubte. Das hier war etwas ganz anderes. Dabei war es ihr
unvorstellbar erschienen, jemals wieder in netter Gesellschaft ein gutes Essen
zu genießen!
»Wer hat dir das Kochen beigebracht?«
Schalber schluckte einen Bissen hinunter und trank von seinem Wein.
»Wenn man allein lebt, lernt man so einiges.«
»Warum hast du nie geheiratet? Am Telefon hast du gesagt, du hättest
schon ein paarmal daran gedacht …«
Er schüttelte den Kopf. »Heiraten ist nichts für mich. Letztlich ist
es eine Frage der Perspektive.«
»Wie meinst du das?«
»Wir alle haben ein ganz bestimmtes Bild vom Leben, von unserer
Zukunft. Es erinnert an ein Gemälde, denn es gibt Elemente im Vordergrund und
andere im Hintergrund. Letztere sind auch wichtig, denn sonst gäbe es keine Perspektive,
sondern nur ein zweidimensionales, wenig realistisches Bild. Nun, die Frauen in
meinem Leben befinden sich eher im Hintergrund. Ich kann nicht ohne sie, aber
im Vordergrund müssen sie auch nicht unbedingt stehen.«
»Und wer steht dort? Von dir einmal abgesehen«, stichelte Sandra.
»Meine Tochter.«
Das erstaunte sie. Schalber amüsierte sich über ihr verblüfftes
Schweigen.
»Willst du sie sehen?« Er griff nach seinem Portemonnaie und wühlte
darin.
»Du willst mir doch nicht weismachen, dass du zu den Vätern gehörst,
die mit einem Foto ihrer Kinder im Geldbeutel herumlaufen! Meine Güte,
Schalber, du überraschst mich immer wieder!«, sagte sie ironisch. Doch in
Wahrheit war sie aufrichtig gerührt.
Er zeigte ihr das zerknitterte Foto eines Mädchens. Es war
aschblond, genau wie er. Es hatte sogar seine grünen Augen.
»Wie alt ist sie?«
»Acht. Ist sie nicht phantastisch? Sie heißt Maria. Sie liebt das
Ballett und nimmt Tanzunterricht. Zu Weihnachten und zum Geburtstag wünscht sie
sich immer einen Hund. Vielleicht werde ich ihr den Wunsch noch dieses Jahr
erfüllen.«
»Siehst du sie oft?«
Schalbers Miene verfinsterte sich kurz. »Sie lebt in Wien. Mit ihrer
Mutter verstehe ich mich nicht besonders: Die ist sauer auf mich, weil ich sie
nicht geheiratet habe«, sagte er lachend. »Aber sobald ich etwas Zeit habe,
hole ich Maria zum Reiten ab. Ich bringe es ihr bei, so wie mein Vater es mir
beigebracht hat, als ich in ihrem Alter war.«
»Das ist schön.«
»Jedes Mal, wenn ich sie wiedersehe, habe ich Angst, dass sie sich
verändert hat. Dass unsere Beziehung während meiner Abwesenheit abgekühlt ist.
Noch ist sie wahrscheinlich zu jung dafür – aber was ist, wenn sie lieber ihre
Freundinnen treffen will? Ich will ihr nicht auf die Nerven gehen.«
»Ich glaube nicht, dass das passieren wird!«, tröstete Sandra ihn.
»Normalerweise haben Töchter so ein Verhalten für ihre Mütter reserviert. Meine
Schwester und ich waren ganz verrückt nach unserem Vater, obwohl er beruflich
viel unterwegs war. Wahrscheinlich gerade deswegen. Wenn er nach Hause kam,
waren wir jedes Mal richtig euphorisch.«
Schalber nickte und freute sich über ihre aufmunternden Worte.
Sandra stand auf und wollte die Teller abräumen, aber er hielt sie zurück.
»Wieso legst du dich nicht einfach hin? Ich mach das schon!«
»Zu zweit ist das im Nu erledigt.«
»Nein, lass mich das machen, ich bestehe darauf!«
Sandra hielt inne. So viel Aufmerksamkeit verunsicherte sie. Jemand
kümmerte sich um sie, und daran war sie nicht mehr gewöhnt. »Als du mich
angerufen hast, habe ich dich auf Anhieb gehasst. Nie hätte ich gedacht, dass
wir zwei Tage später zusammen zu Abend essen – geschweige denn, dass du mich
bekochst!«
»Heißt das, dass du mich jetzt nicht mehr hasst?«
Sandra wurde ganz heiß vor Verlegenheit, und er brach in lautes
Gelächter aus.
»Mach dich nur lustig über mich, Schalber!«, sagte sie.
Er hob ergeben die Hände. »Das wollte ich nicht, entschuldige.«
In diesem Moment wirkte er vollkommen aufrichtig und kein bisschen
unsympathisch. »Was hast du eigentlich gegen die
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