Der Seelensammler
Signal Laras herbeisehnte, beschrieb sie
auch weiterhin alles, was sie sah. Ihr fiel weiter nichts Ungewöhnliches auf,
nur die penible Ordnung. Dann schaute sie sich ihre Handyaufnahmen noch einmal
an und hoffte, dass ihr irgendein Detail ins Auge stechen würde.
Unter dem Schreibtisch stand ein Papierkorb voller benutzter
Kleenex-Tücher.
Die Ordnung, die in dieser Wohnung herrschte, ließ darauf schließen,
dass Lara ziemlich pedantisch war. Fast zwanghaft pedantisch. Sandras Schwester
war genauso. Manche ihrer Ticks machten sie wahnsinnig: Zum Beispiel musste das
Zigarettensymbol auf dem Zigarettenanzünder im Auto stets waagerecht stehen,
und ihre Nippesfiguren mussten der Größe nach aufgereiht sein. Man hätte meinen
können, ihr Leben hinge davon ab. Lara war genauso: Die Symmetrie, die Sandra
auf Anhieb aufgefallen war, war kein Zufall. Deshalb fand sie es merkwürdig,
dass der Papierkorb nicht geleert worden war. Sandra legte das Handy weg und
beugte sich vor, um sich den Inhalt genauer anzusehen. Zwischen gebrauchten
Taschentüchern und alten Notizen entdeckte sie einen zusammengeknüllten Zettel.
Sie faltete ihn auseinander. Es war der Kassenbeleg einer Apotheke.
»Fünfzehn Euro neunzig«, las Sandra, doch der Artikel stand nicht
darauf. Der Kauf war einige Wochen vor Laras Verschwinden getätigt worden.
Sandra stellte das Fotografieren vorübergehend ein und begann, die
Schubladen zu kontrollieren. Sie suchte nach dem Medikament, das zu diesem
Kassenzettel passte, konnte jedoch keinerlei Arzneimittel entdecken. Mit dem
Kassenzettel in der Hand ging sie nach unten ins Bad.
Es war ein kleiner Raum mit einer Kammer für Besen und Putzmittel.
Der Spiegel verbarg ein Badezimmerschränkchen. Sandra öffnete es: Die
Medikamente wurden getrennt von den Kosmetikartikeln aufbewahrt. Sie zog eines
nach dem anderen hervor und kontrollierte den aufgedruckten Preis. Anschließend
legte sie sie ins Waschbecken.
Bisher war nichts dabei gewesen, was fünfzehn Euro neunzig kostete.
Doch Sandra wusste, dass diese Information wichtig war. Sie beeilte
sich – wenn auch mehr aus Nervosität als aus einer echten Notwendigkeit heraus.
Als sie alle Medikamente durchgesehen hatte, stützte sie sich mit beiden Händen
aufs Waschbecken und versuchte, ihre Angst zu verdrängen. Sie atmete tief
durch, stieß die Luft aber gleich wieder aus, weil die Luftfeuchtigkeit hier
höher war als im Rest der Wohnung. Obwohl das Klo sauber wirkte, zog sie ab, um
das darin stehende Wasser wegzuspülen. Dann drehte sie sich um, mit der
Absicht, nach oben zurückzukehren. Erst da fiel ihr der Kalender an der Tür
auf.
Nur eine Frau kann verstehen, warum eine andere Frau einen Kalender
im Bad braucht, dachte sie.
Sie nahm ihn vom Nagel und blätterte zurück. Auf allen Kalenderblättern
waren mehrere Tage hintereinander rot eingekringelt, und zwar in einem ziemlich
regelmäßigen Abstand.
Aber auf der letzten Seite fehlten diese Anzeichnungen.
»Mist!«, rief Sandra.
Sie hatte es von Anfang an gewusst. Im Grunde hätte sie
diesen Beweis gar nicht mehr gebraucht. Lara hatte den Kassenbeleg in den
Papierkorb geworfen, es dann aber nicht mehr geschafft, ihn zu leeren. Zwischen
dem Beleg und den Kleenextüchern hatte aber noch etwas anderes gelegen. Etwas,
das eine besondere Bedeutung für die Studentin hatte und von dem man sich nicht
so leicht trennt.
Ein Schwangerschaftstest.
Jeremiah hat ihn mitgenommen, als er Lara entführt hat, dachte
Sandra.
War das der nächste Fetischgegenstand nach dem Haarband, dem
Korallenarmband, dem roten Schal und dem Rollschuh?
Sandra lief im Wohnzimmer mit ihrem Handy auf und ab: Sie wollte
Commissario Camusso von ihrer Entdeckung berichten. Vielleicht würde die
Nachricht von Laras Schwangerschaft den Ermittlungen einen neuen Schub geben.
Aber sie verschob das Telefonat und fragte sich, was sie noch übersehen hatte.
Die von innen verschlossene Tür gab ihr die Antwort.
Sie bedeutete, dass Lara ihre Wohnung nicht auf diesem Weg verlassen
hatte. Also musste sie beweisen, dass Jeremiah das Mädchen auf andere Weise aus
der Wohnung gebracht hatte.
Was habe ich übersehen?
Die dritte Lektion, die sie gelernt hatte, war, dass Häuser einen
Geruch hatten.
Welchen Geruch hatte dieses Hauses? Es roch feucht, dachte Sandra
sofort, das war ihr schon beim Betreten der Wohnung aufgefallen. Doch besonders
stark war dieser Eindruck im Bad gewesen. Das konnte an den Rohren liegen.
Allerdings hatte sie kein
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