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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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bringen.
»Ich kenne deine Geschichte. Aber auf diese Weise erreichst du gar nichts.«
    Die Frau bemerkte den Lichtstreifen unter der Badezimmertür. »Wer
ist da drin?« Sie zielte mit der Pistole darauf.
    Marcus sah, dass sie sofort schießen würde, sobald die Tür aufging.
»Hör zu! Denk an dein neues Kind. Wie heißt es?« Er versuchte, Zeit zu
gewinnen, ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das ihren Entschluss ins
Wanken bringen würde. Aber Camilla reagierte nicht auf ihn und ließ die Tür
nicht aus den Augen. Er versuchte es noch einmal: »Denk an deinen Mann. Du
kannst die beiden nicht im Stich lassen!«
    In Camillas Augen traten die ersten Tränen. »Filippo war so ein
wunderbares Kind.«
    Marcus beschloss, gnadenlos zu sein. »Was glaubst du wohl, was
passiert, wenn du abdrückst? Was wirst du fühlen? Ich kann es dir sagen: Es
wird nicht das Geringste verändern, alles bleibt, wie es ist. Du wirst
keinerlei Erleichterung verspüren, es wird schwierig bleiben. Und was hast du
dann gewonnen?«
    »Es gibt keine andere Methode, Gerechtigkeit herzustellen.«
    Marcus wusste, dass die Frau recht hatte. Es gab keine Beweise, die
Astor Goyash mit Canestrari und Filippo in Verbindung brachten. Den einzigen
Beweis – den Knochen, den er in der Klinik gefunden hatte – hatten sich die
Männer des Bulgaren geschnappt. »Es wird niemals Gerechtigkeit geben«, sagte er
mit fester, aber verständnisvoller Stimme, in der auch ein wenig Resignation
mitklang, weil er das Schlimmste befürchtete. »Rache ist keine Lösung.« Er nahm
an ihr den gleichen Blick wahr wie bei Raffaele Altieri, bevor dieser nach
jahrelangen Verdächtigungen seinen Vater erschossen hatte. Es lag die gleiche
Bestimmtheit darin, mit der Pietro Zini Federico Noni hingerichtet hatte,
anstatt ihn anzuzeigen. Und deshalb würden seine Bemühungen erneut vergeblich
sein. Die Badezimmertür würde aufgehen, und Camilla würde abdrücken.
    Sie sahen, wie die Klinke herunterging. Das Licht im Bad wurde
ausgemacht, die Tür geöffnet. Das Mädchen schrie etwas vom Bett aus. Die
menschliche Zielscheibe erschien im Türspalt. Sie trug einen blütenweißen
Bademantel, musterte die Pistolenmündung erstaunlich verängstigt, und die
eisblauen Augen begannen zu glänzen. Doch da stand kein alter Mann um die siebzig.
    Sondern ein fünfzehnjähriger Junge.
    Alle im Zimmer waren gleichermaßen verwirrt. Marcus sah erst Camilla
an und dann den Jungen. »Wo ist Astor Goyash?«
    Er antwortete im Flüsterton, aber niemand konnte ihn verstehen.
    »Wo ist Astor Goyash?«, wiederholte Camilla wütend und drohte ihm
mit der Waffe.
    »Ich bin Astor Goyash«, sagte der Junge nur.
    »Nein, bist du nicht!«, erwiderte sie, als weigere sie sich, der
Tatsache ins Auge zu sehen.
    »Dann … mein Opa vielleicht … Da oben feiern schon alle meinen Geburtstag.
Er ist auch dort.«
    Camilla bemerkte ihren Fehler und begann zu schwanken. Marcus nutzte
das aus, trat neben sie, legte eine Hand auf die Pistole und drückte sie
langsam nach unten. Die Lider der Frau senkten sich mit der Waffe. »Gehen
wir!«, sagte Marcus. »Wir haben hier nichts mehr verloren. Du möchtest doch
nicht den Jungen erschießen, nur weil sein Großvater aus irgendeinem Grund in
den Tod deines Sohnes verwickelt ist. Das wäre keine Rache, sondern einfach nur
grausam. Und ich weiß, dass du zu so etwas nicht in der Lage wärst.«
    Camilla dachte nach. Sie wollte sich gerade fügen, als sie plötzlich
erstarrte. Sie hatte etwas gesehen.
    Marcus folgte ihrem Blick und merkte, dass sie den Jungen erneut
fixierte. Sie starrte auf den Bademantel, der ein Stück seiner Brust freigab.
Sie trat näher, und der Junge wich zurück, bis er mit dem Rücken zur Wand
stand. Sanft zog Camilla das Frottee beiseite und enthüllte eine lange Narbe.
    Ein Zittern erfasste Marcus und ließ seinen Atem stocken.
Oh, mein Gott, was hatten sie getan!
    Astor Goyash hatte drei Jahre zuvor genau Filippo Roccas Alter
gehabt. Alberto Canestrari war Chirurg gewesen. Er hatte in Goyashs Auftrag
getötet, um ihm ein Herz zu besorgen.
    Camilla konnte das unmöglich wissen, redete sich Marcus ein. Und
trotzdem hatte sie eine Vorahnung, ein mütterlicher Instinkt, eine Art sechster
Sinn zu dieser Geste veranlasst, deren Bedeutung die Frau selbst nicht so ganz
zu begreifen schien.
    Sie legte eine Hand auf die Brust des Jungen, der sich nicht wehrte.
Sie ließ sie dort liegen, um den Herzschlag des fremden Organs wahrzunehmen.
Ein Geräusch,

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